Im Erziehungs- und Schulkontext ist oft von Regeln die Rede. Im aktuellen Wochenbrief geht es um Probleme ihrer Anwendung. Dass es Regeln braucht, ist unbestritten. Und dass sie konsequent angewendet werden müssen, ebenfalls. Da geht es um Stabilität und Ordnung, und es geht um Fragen von Verlässlichkeit und Fairness. Das gilt, auch wenn Regeln nicht in Stein gemeisselt sind abgeändert werden können. Meist wiederum nach klaren Regeln. Das alles ist hier nicht das Thema. Es geht um die Frage der Anwendung. Und die hat es in sich.
Auf den ersten Blick scheinen die Dinge klar zu sein: Wenn man etwas entscheiden muss, orientiert man sich am besten an einer Regel. Das ist deshalb einfach, weil es einen in der konkreten Entscheidungssituation der Entscheidung enthebt. Die Entscheidung ist durch die Regel schon gefällt, bevor sie gefallen ist. Man kann damit eine Entscheidung treffen, ohne wirklich entscheiden zu müssen.
Liegen die Dinge komplizierter, kann es geschehen, dass man unsicher wird. Soll ich diese Regel im vorliegenden Fall wirklich anwenden? Wäre die Sachlage leicht anders, hätte ich mich, ohne zu zögern, an ihr orientiert. Aber in diesem konkreten Fall? Wäre es nicht angebracht, eine Ausnahme zu machen? – Angesichts einer Besonderheit kann einem die Anwendung einer Regel regelrecht regelwidrig vorkommen. Wie gerne hätte man jetzt eine Regel, die einem sagt, wann man eine bestimmte Regel anwenden und wann man eine Ausnahme machen soll.
Verzichtet man darauf, eine Regel anzuwenden, spricht man manchmal von einer Ausnahme. Gleichzeitig sagt man: «Die Ausnahme bestätigt die Regel.» Damit ist gemeint, dass eine Ausnahme nur als eine Ausnahme gelten kann, wenn die Regel nach wie vor Geltung hat. Die Frage: «Ausnahme wovon?» zeigt an, dass man immer wieder auf die Regel verwiesen wird, und zwar auch dort, wo man eine Regel hinter sich lassen möchte. Man kann aber auf unterschiedliche Arten Ausnahmen machen, nämlich indem man beide Augen zudrückt, wie man dann sagt. Oder indem man genau hinschaut.
Im ersten Fall stellt man die Regel eigentlich gar nicht in Frage. Man entzieht sich einfach der Situation, sie anwenden zu müssen. Eben, indem man beide Augen zudrückt. Der zweite Fall ist interessanter: Der genaue Blick auf den Einzelfall zeigt ihn in seiner ganzen Komplexität. Die Regel erscheint beim Hinschauen viel zu grob. Man zögert, die besondere Situation an der allgemeinen Richtschnur zu messen – und zwar ohne diese allgemeine Richtschnur in Frage stellen zu wollen. Man hat nichts gegen die Regel. Nur dass sie in diesem konkreten Fall nicht passen will, ist das Problem. Was gut genug sein mag für die überwiegende Mehrheit der Fälle, scheint im konkreten Einzelfall gerade fehl am Platz.
Es wäre schön, wenn es eine Regel gäbe, um die beiden Fälle auseinander zu halten. Wer mit Blick auf den Einzelfall darauf verzichtet, eine Regel anzuwenden, setzt sich dem Vorwurf aus, die Regel verraten zu haben. Sei es, weil man die Regel nicht hoch genug geschätzt hätte. Sei es, weil man zu nachlässig gewesen wäre, sie durchzusetzen. Wer auf diese Weise kritisiert wird, ist dann in der Pflicht, die Entscheidung zu begründen. Das muss man tun, indem man für den Einzelfall einsteht. Man muss ihn gegen die Abstraktion des Allgemeinen verteidigen.
In der Schule gibt es unzählige Situationen, in denen man Entscheidungen treffen muss. Oft gibt es keine fixen Regeln, man muss situativ entscheiden. Das liegt an der Dichte der menschlichen Beziehungen, die den Schulalltag so reichhaltig machen. Umso wichtiger ist es, dass es Regeln gibt, an die sich möglichst alle halten. Das erleichtert den Alltag und bringt Entlastung. Deshalb wünsche ich mir, dass alle mithelfen, den Regeln, die das Zusammenleben bestimmen, Nachdruck zu verschaffen.
Gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir an der KUE Urteilskraft und Augenmass bewahren. Wir wollen immer wieder auch für Einzelfälle einstehen und den Mut haben, besondere Lösungen für besondere Situationen zu finden. Es ist ein herausragendes Merkmal der gewünschten Konsequenz, im richtigen Moment inkonsequent zu sein.
Jürg Berthold
WB_16_2025