Wer macht Unterricht?

Unterricht gelingt, wenn Lehrer:innen nicht lehren, sondern Lernen ermöglichen.

Wer „macht“ eigentlich Unterricht? Klar: die Lehrpersonen – sie unterrichten, sie planen Semester und Lektionen, sie stellen Material bereit, sie sprechen viel, verantworten das Zeitmanagement, setzen Prüfungen an, verteilen Noten… Da entsteht schnell der Eindruck, die Schüler:innen seien passiv: sie werden unterrichtet, es herrscht Ruhe, der Stoff wird behandelt.

Stimmt dieses Bild? Es hat auf jeden Fall seine bequemen Seiten, denn die Rollen sind klar verteilt. Verantwortlich ist die Lehrperson, die Schüler:innen passen auf – oder auch nicht, und irgendwann kommt die Prüfung. Trotzdem ist das Bild falsch. Wenn ich als Mitglied der Schulkommission Unterrichtsbesuche mache, kann ich, selbst Lehrerin und Dozentin für Fachdidaktik, immer wieder beobachten, wie viel Austausch in Unterrichtssituationen stattfindet und wie wichtig die Beiträge der Jugendlichen sind. Und ich sehe, wie Lehrer:innen genau hier ansetzen: sie erarbeiten einen Rahmen, damit Schüler:innen aktiv lernen können, indem sie anhand von sinnvollen Aufträgen selbständig Probleme bearbeiten, Lösungen diskutieren und verschiedene Zugangsweisen kennenlernen. Das macht Lehrerinnen und Lehrer nicht überflüssig, im Gegenteil: sie müssen fachlich versiert sein, die Ausgangssituation und das Vorwissen der Jugendlichen kennen, sicherstellen, dass die Aufträge und das Ziel klar sind, bei Fragen unterstützen und vor allem am Schluss die Resultate bündeln, unterschiedliche Sichtweisen aufgreifen und Ergebnisse überprüfen. Das klingt abstrakt, weil es dafür ganz kleine oder auch sehr umfassende Formate gibt. Wenn z.B. jüngere Schüler:innen Satzglieder bearbeiten, bekommen sie vielleicht einfach kurz Zeit, zu zweit knifflige Beispiele anzuschauen: Wo ist in einem Satz wie „Sie schreibt den ganzen Tag Briefe“ das Akkusativobjekt? Im Klassengespräch wird aus dieser Frage leicht ein Ratespiel, an dem sich nur einzelne beteiligen. Mit einer kurzen Murmelphase ist die Beteiligung höher, und es kann besser geklärt werden, wie man auf die richtige Antwort kommt (übrigens: „Briefe“ – „den ganzen Tag“ steht zwar im Akkusativ, ist aber nicht Objekt). Umfassender sind Arbeitsaufträge, die z.B. zur vertieften Auseinandersetzung mit literarischen Texten führen – was könnte Lotte schreiben, über die wir ja sehr viel aus Werthers Briefen erfahren? Welche Fragen an die literarische Figur lassen sich beantworten, welche lässt der Text offen? Welche Informationen bekommen wir aus dem literaturgeschichtlichen Kontext und von der Situation des Autors? Sozusagen die „Krönung“ solcher Lernformate ist die Matura-Arbeit, bei der Schüler:innen ihr Projekt selbständig entwickeln, aber das können sie nicht aus dem Stand, sondern weil sie immer wieder eigenständig verschiedene Fragen bearbeitet haben.

Unterricht machen die Lehrpersonen also mit den Jugendlichen zusammen, indem sie Räume für aktives Lernen eröffnen. Die Frage nach dem guten Unterricht beschäftigt nicht nur die Praxis, sondern auch die empirische Unterrichtsforschung. Aktuelle Modelle, die auf gross angelegten Studien beruhen, zeigen, dass für nachhaltiges Lernen viele Faktoren zusammenspielen müssen. Die Lehrperson muss fachlich und methodisch kompetent sein, und ihr Unterricht muss zu den Schüler:innen – ihrem Vorwissen, ihrer Lebenssituation, zur Klasse als Lerngruppe – passen und vor allem sinnvoll strukturiert sein, so dass sie aktiv mitdenken, handeln, fragen und mitreden in vielen verschiedenen Formaten. Wenn ich solche Lektionen oder Halbtage miterlebe, bin ich als Beobachterin glücklich, weil es bedeutet, dass die Jugendlichen nicht für die Schule im Klassenzimmer sind, sondern dass sie selbständig ihre vielen Interessen und Fähigkeiten weiter ausbauen können.

Ann Peyer

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