Äquifinalität

Ein Appell für eine Schule für den Moment.

Zwei unwahrscheinlich weit auseinanderliegende Gespräche wurden diese Woche sinnstiftend für mich. Das erste liegt etwa sechs Jahre zurück, als eine Englischlehrerin und ich eines Tages eine Erzählung einer Deutschlehrerin mithörten. Offenbar liess uns dabei besonders eine Aussage hellhörig werden, denn gleich darauf warfen wir uns einen vielsagenden Blick zu. Die Aussage war: «Die Legitimation des Literaturunterrichts ist schlicht, dass Literatur uns zu besseren Menschen macht.» Beide waren wir uns einig, dass dies Blödsinn sei. Wir hatten zwar Literatur studiert und diese wurde zu einem zentralen Teil unseres Lebens, doch es war nicht der Teil, der uns zu «guten» Menschen machte, geschweige denn «besseren». Das Gespräch fiel mir zwei Wochen später wieder ein, als ich mit der Englischlehrerin über ihren Glauben sprach. Anscheinend war sie tief religiös. Für mich warf diese Information ein völlig neues Licht auf unser Gespräch. Während für mich die Aussage der Deutschlehrerin politisch halbgar war, eine etwas elitäre und koloniale Sicht auf die Welt, war ihre Ablehnung dieser Darstellung des Literaturunterrichts wahrscheinlich in ihrem Christentum begründet. Schliesslich wären «gut» oder «besser» für sie religiöse Kategorien und würden sich demnach eben auch nach religiösen Massstäben bemessen.

Das zweite Gespräch hatte ich in diesen Sommerferien auf einer Wanderung mit einer Freundin. Beim steilen Aufstieg kamen wir ins Philosophieren, vorneweg sie, munter und leicht, dahinter ich, atemlos und angestrengt im Versuch, den Faden und sie nicht aus den Augen zu verlieren. Das Gespräch drehte sich schlussendlich um die Bewertung des guten Lebens, die uralte Frage danach, wie man zu leben habe. Ganz der ehemalige Philosophiestudent, meinte ich, dass sich das Leben wie eine Geschichte erst am Schluss, erst als Ganzes betrachten liesse. Das Leben müsse daran bewertet werden, ob wir hinter den Geschichten, die es schreibt, stehen können und wollen. Das Glücksgefühl, das Leid, die Langeweile, all das kann nur als Beitrag zum guten Leben verstanden werden, insofern es zu dem beiträgt, was das Leben für uns sein soll, zur Geschichte, die wir davon erzählen wollen. Sie hingegen war der Meinung, dass es schliesslich um den einzelnen Moment ginge, und Ziel könne es nur sein, diese Momente so glücklich zu gestalten wie möglich. Ein gutes Leben ist eines mit möglichst vielen dieser Momente.

Wieso verbanden sich also nun diese zwei Gespräche, sechs Jahre auseinanderliegend, für mich? Es war unsere gemeinsame Erkenntnis am Ende des zweiten Gesprächs, die ich interessant fand. Trotz dieser weit auseinanderliegenden Vorstellung vom richtigen Leben scheint der Einfluss dieser Differenz auf unser gelebtes Leben – statt vielleicht des richtigen – minimal zu sein. Wir freuen uns über ähnliche Erlebnisse, wir hadern mit ähnlichen Entscheidungen, kurz, wir leben ein ähnliches Leben. Und in starkem Kontrast dazu steht die Englischlehrerin, die ein ganz anderes Leben lebt als ich. Wahrscheinlich, denn gesehen habe ich sie seither nie mehr.

Paul Watzlawick schreibt in seinem Buch «Menschliche Kommunikation» von einem Phänomen, das er Äquifinalität nennt. In einem offenen System mit einer offenen Anzahl von dazu beitragenden Faktoren können teils sehr verschiedene Ausgangspunkte über sehr verschiedene Wege zum gleichen Endzustand führen. Ich glaube, dass dies, in Bezug auf den Lehrberuf, vielleicht auf das Schulsystem und die Erziehung ganz allgemein, ein sehr nützlicher Begriff ist. Sowohl als Lehrer:innen als auch als Schüler:innen sind wir vom Gedanken der Kausalketten besessen: Wenn ich ihnen das beibringe, werden sie zu reifen Erwachsenen, die ihren positiven Beitrag zur Gesellschaft leisten. Wenn ich das falsch erkläre, werde ich das Interesse des Schülers für Literatur für immer ruinieren. Wenn der Unterricht so abstrakt bleibt, werde ich mich nie im Arbeitsmarkt zurechtfinden. Wenn ich eine schlechte Prüfung schreibe, wird meine Lehrerin ihren guten Eindruck von mir verlieren.

Die gute Schule führt zum guten Leben.

Es ist wichtig, über die Wirkungen unseres Handelns nachzudenken. Denn ganz offensichtlich prägt die Schule das Leben derjenigen, die ihre Zeit darin verbringen, auf mannigfaltige Art. Doch müssen wir uns vielleicht eine grössere Skepsis gegenüber unserer Fähigkeit, diese Wirkungsketten vorherzusagen, gefallen lassen. Der Weg von dem, was wir von uns denken, was wir lehren und lernen, zum richtigen – zum guten – Leben liegt womöglich weitgehend im Dunklen.

Joel Strassberg

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