Anonym

Anonyme Mitteilungen haben das Potenzial, Misstrauen zu säen. Der Wochenbrief ist deshalb ein Plädoyer für Wahrhaftigkeit.

 

„Hier stehe ich und kann nicht anders“, soll Martin Luther 1521 auf dem Reichstag in Worms gesagt haben. Einer, der zu seiner Überzeugung steht. Einer, der sich exponiert mit seinen Stellungnahmen und auch allfällige Konsequenzen akzeptiert. Dies ist das Bild, das man von Luther zeichnet. Mir hat das immer imponiert, und dass meine Eltern mir den Vornamen Martin gegeben haben, hängt vermutlich mit ihrem aufrechten Luther-Bild zusammen.

Vielleicht bin ich aus diesem Grund skeptisch gegenüber anonymen Feedbacks. Vielleicht werfe ich deshalb anonyme Beschwerden in den (elektronischen) Papierkorb.

Fehlverhalten entsteht immer in Beziehungen. Um Konfliktsituationen zu verstehen, müssen sie in ihrer Komplexität wahrgenommen und im Gespräch geklärt werden. Wer sich anonym meldet, tendiert dazu, die eigene Involviertheit in einen Konflikt auszuklammern. Es gibt selten „objektive Wahrheiten“, die nur eine Erzählung als die gültige zulassen.

Letzte Woche erfuhr ich von einer digitalen Plattform, mit der anonyme Nachrichten verschickt werden können. Die Werbung dafür ist von einer Unaufrichtigkeit, die sogar für Werbung unüblich und eigentlich empörend ist. Mit dieser App komme man den Freundinnen und Freunden näher, weil endlich deren „ehrliche Meinungen“ sichtbar würden, heisst es.

Das ist schon nur perfid, weil es ja nicht möglich ist, die „Freund:innen“ im Feld anonymer Posts zweifellos zu identifizieren. Aber auch die Vorstellung von Ehrlichkeit, die dahinter steckt, ist eigenartig naiv (oder unaufrichtig).

Gerade Äusserungen auf Social Media sind meistens nicht vorsichtig gestaltete Bekenntnisse, die einem Imperativ der Wahrhaftigkeit gehorchen. Sie folgen vielmehr den Vorbildern, die der Textsorte („Post auf einem der Social Media“) entsprechen.

So gibt es Formen von disqualifizierendem Reden über andere, die sich wie Wellen weiterverbreiten. Bestimmte Schimpfwörter tauchen plötzlich gehäuft auf, und gerade Jugendliche probieren dann diese Wörter einfach mal aus. Mit ihrem eigenen Empfinden muss das nichts zu tun haben, es geht eher darum, trendige Sprachspiele mitzumachen. Wie kommt es an, wenn ich mal „bitch“, „gay“, „ehrenlos“ verwende (ohne vielleicht die genaue Bedeutung und die Herkunft des Ausdrucks zu kennen)?

Im direkten Gespräch geht das nicht. Wer einem anderen Menschen ins Gesicht schaut, muss sehr genau formulieren, wenn es um eine schwierige und unangenehme Rückmeldung geht. Das ist nichts mehr für feige Menschen. Gefragt sind vielmehr Mut und Sorgfalt.

Man muss dann hinstehen und sich sicher sein, dass es nicht anders geht.

Ich hoffe, dass wir als Schule diese Haltung vermitteln können.

Es würde mich freuen, wenn alle KUE-Angehörigen meine Skepsis gegen Apps wie die oben erwähnten teilen würden und sich entsprechend verhalten.

Martin Zimmermann

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