Bilden kann man nur sich selbst

Warum ein für den Bildungsprozess zentrales Moment durch KI bedroht wird. – Gedanken dazu im aktuellen Wochenbrief.

Täuferhöhle in Bäretswil (Bildquelle: Wikipedia).

An der Kantonsschule in Wetzikon, wo ich vor der KUE unterrichtete, gab es viele fundamentalistische Christinnen und Christen. In der Reformation war das Zürcher Oberland Zufluchtsort für verfolgte religiöse Minderheiten. Deshalb gibt es im Einzugsgebiet der KZO noch heute viele Freikirchen. Im Unterricht führte das immer wieder zu Diskussionen im Zusammenhang mit Fachinhalten, die religiöse Überzeugungen in Frage stellten – etwa im Zusammenhang mit dem Gedankengut der Aufklärung in Deutsch und Geschichte, mit der Evolutionstheorie in Biologie oder mit der Frage nach dem Erdalter in Geografie. Eine Strategie im Umgang mit solchen kognitiven Dissonanzen bestand für diese Schüler:innen darin, dass sie Antworten gaben, von denen sie wussten, dass sie als richtig beurteilt werden würden. Sie schrieben dadurch im besten Fall gute Noten. Der eigentliche Zweck des Unterrichts drohte aber verfehlt zu werden. Der Prozess der Bildung besteht im Idealfall nämlich darin, dass man in eine aktive Auseinandersetzung mit den vermittelten Inhalten tritt. Dass man sich herausfordern lässt von dem, was man erfährt, und dass man versucht, das Stück Weltwissen in das eigene Bild der Welt zu integrieren.

Das Beispiel der Religiösen, das hier stellvertretend für jede Form des Sich-nicht-einlassens steht, führte ich letzte Woche an, um den Schüler:innen die Pointe des Bildungsprozesses näherzubringen. Wir KUE-Schulleiter:innen sprechen mit allen Klassen der von uns begleiteten Jahrgänge einmal im Jahr jeweils während einer Lektion über ein ausgewähltes Thema, etwa über den KUE-Kodex oder die KUE-Charta. Ausgangspunkt im Gespräch mit den 5. Klassen war der sog. Bildungsartikel der Maturitätsanerkennungsverordnung (Art. 5 der noch geltenden Bestimmungen, neu Art. 6). Wir reflektierten zusammen den Unterricht und die Schüler:innen formulierten für sich Ziele für das letzte Drittel der Mittelschulzeit.

«Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich», schrieb der Philosoph Peter Bieri in einem vielbeachteten Beitrag (Die Zeit, 2. Sept. 2008). Und Bieri erklärte dieses Sich-Bilden im Gegensatz zum Ausgebildet-werden: «Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.» Der kritische Unterton gegenüber einer kompetenzorientierten Vorstellung von Schule ist unüberhörbar, wenn Bieri die ganzheitliche Selbstbildung ins Zentrum rückt. Aber auch der Appell an uns Lehrpersonen: Wir müssen mehr tun, als die Klassen zu beschulen.

Dass die Schüler:innen, auch an der KUE, den Unterricht oft anders erleben, ist eine Tatsache. Jemand will etwas von einem. Es werden Ziele vorgegeben, die nicht die eigenen sind. Immer wieder passiert aber auch etwas anderes, nämlich dass einen ein Thema berührt, die eigenen Überzeugungen herausgefordert werden… und dass man in der Auseinandersetzung damit reift.

Der Gegensatz von Ausbildung und Bildung im Bieri-Zitat radikalisiert sich angesichts der Präsenz von KI, hat jemand in der Diskussion eingebracht. Wenn es beim Lernen darum geht, dass man sich bildet, ist dieser Prozess gefährdet. Denn durch KI kann man den Mühen der Integration von Wissen ins eigene Weltbild sehr leicht ausweichen. Deshalb gewinnt die Vorstellung, dass es im Bildungsprozess darum geht, in ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst zu treten, eine neue Bedeutung. Wenn sich die 1. bis 5. Klassen der KUE in der laufenden Winterthemenwoche in den verschiedenen Fächern mit KI beschäftigen, dann wird hoffentlich auch diese Gefahr an der einen oder anderen Stelle bewusst werden.

Jürg Berthold

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