Bildungsverschmutzung

Das aktuelle Schulsystem produziere Bildungsverschmutzung, sagt Peter Bichsel. Der Wochenbrief versucht eine Einordnung.

Peter Bichsel, der grosse alte Mann der Schweizer Literatur, denkt immer wieder über die Schule nach. Als ausgebildeter Lehrer mit einigen Jahren Berufserfahrung äussert er sich auch zu Fragen der Schulpolitik.

Im Gesprächsband (Was wäre, wenn? Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel, Kampa Verlag, Zürich 2018) macht er zwei Aussagen, die ich an dieser Stelle gerne aufnehme.

In der 5. und 6. Klasse habe er, Peter Bichsel, einen Lehrer gehabt, der als einziger an seine Stärken geglaubt habe. «Bei ihm wurde ich ein guter Schüler, weil er mich für einen guten Schüler hielt.»

Man kennt das Phänomen unter dem Namen «Pygmalion-Effekt». Dazu gäbe es viel zu sagen. Aus meiner Sicht ist für uns Lehrerinnen und Lehrer mindestens eine Folgerung daraus zentral. Wir müssen allen Schülerinnen und Schülern immer wieder einen grundsätzlichen Vertrauensvorschuss geben. Es gilt, die Stärken zu stärken und nicht nur Defizite zu benennen.

Selbstverständlich gibt es unterschiedliche Begabungen. Wir alle kennen Personen, die in einem Fachbereich grosse Stärken haben, aber in einem anderen Bereich deutliche Defizite aufweisen.

Die Idee des Gymnasiums ist tatsächlich, dass man eine möglichst breite Allgemeinbildung anstrebt, aber es wäre eine Überforderung, wenn man bei den einzelnen Lernenden in allen Fächern Maximalleistungen verlangen würde. Aus diesem Grunde gibt es die Kompensationsregel. Man darf ungenügende Noten haben, muss diese aber mit guten Leistungen in anderen Fächern kompensieren. Als Lehrer habe ich zu akzeptieren, dass in meinem Fach nicht alle Schülerinnen und Schüler Spitzenleistungen erbringen können oder wollen. Ich darf zwischen guten und schlechten Schüler:innen unterscheiden, aber ich muss allen ein Potenzial zuschreiben – gemäss ihren individuellen Möglichkeiten.

Den zweiten Gedanken von Bichsel, den ich aufnehmen möchte, ist derjenige der «Bildungsverschmutzung». Bichsel versteht die heutigen Entwicklungen an den (Hoch-)Schulen als das Bemühen, die Menschen mit möglichst viel Inhalten abzufüllen. Förderprogramme, Nachhilfe, Stützunterricht, Lerntherapien, Coaching, Vorbereitungskurse etc. Diese Bildungsindustrie will (z. T. parallel zum obligatorischen Schulunterricht) Schülerinnen und Schüler optimieren. Das Ziel wäre eigentlich gut gemeint, weil man den Jugendlichen beste Chancen im Berufsleben ermöglichen möchte. In der Realität aber entsteht häufig eine Überforderung.

In der Bildung sollte der Prozess im Zentrum stehen, durch den Jugendliche zu reifen Menschen werden. Dies gelingt, wenn sie genügend Zeit haben, sich mit essentiellen Fragen auseinanderzusetzen. Selbstverständlich erwerben sie dabei auch grundlegendes Wissen und unerlässliche Kompetenzen. Fachinhalte sind wichtig, aber die Qualität ist wichtiger als die Quantität.

Martin Zimmermann

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