Das Gymnasium für das 21. Jahrhundert - Reformolution

Soll das Gymnasium reformiert werden? Oder braucht es gar eine revolutionäre Neugestaltung? Zu dieser Frage ist letzte Woche eine «Auslegeordnung» publiziert worden.

 

Man müsse die Stärken und Schwächen des Gymnasiums sorgfältig analysieren und das sogenannte Maturitätsanerkennungsreglement reformieren, hiess es vor einem Jahr beim Treffen der Schweizerischen GymnasialrektorInnen. Die EDK (ErziehungsdirektorInnenkonferenz) nahm den Ball tatsächlich auf und gab einer Expertengruppe den Auftrag, eine „Auslegeordnung zur Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität“ zu verfassen.

Dieser bemerkenswerte Text ist nun letzten Dienstag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden (https://edudoc.ch/record/203996/files/Weiterentwicklung_Gymnasiale_Maturitaet_Auslegeordnung_d.pdf). Natürlich machte ich mich sofort an die Lektüre.

Die AutorInnen beurteilen das Schweizerische Gymnasium insgesamt positiv: „Aus Sicht der wichtigen Akteure ist die gymnasiale Maturität grundsätzlich in einem guten Zustand.“ (S. 75) Aus der Analyse des gesellschaftlichen Umfelds (politisch, demographisch, wirtschaftlich, kulturell) folgt aber die klare Forderung, dass sich das Gymnasium an die veränderten Bedingungen anpassen muss.

Natürlich spielt hier die Digitalisierung eine wichtige Rolle. Dabei geht es nicht nur um neue didaktische Möglichkeiten, sondern auch um die Veränderungen, die sich in der Arbeitswelt schon ergeben haben oder sich vermutlich ergeben werden. Darauf muss die Schule reagieren.

Für uns gilt es deshalb, das Gymnasium des 21. Jahrhunderts zu entwickeln. Einen derart kühnen Satz sucht man in der „Auslegeordnung“ allerdings vergeblich. Eine Revolution sei nicht angesagt, heisst es, nur gewisse Anpassungen müssten vorgenommen werden.

Das beginnt zunächst mit einer Bestätigung des geltenden Zweckartikels 5 des Maturitätserkennungsreglements von 1995: „Die beiden Bildungsziele der gymnasialen Maturität, vertiefte Gesellschaftsreife und allgemeine Studierfähigkeit, sind weiterhin gültig, und zwar gleichwertig.“ (S. 64)

Im Nachsatz („und zwar gleichwertig“) verbirgt sich allerdings eine gewichtige Neubewertung. Neben der Studierfähigkeit, die häufig vor allem als Nachweis von fachlichem Wissen verstanden wurde, erhält die „vertiefte Gesellschaftsreife“ eine Aufwertung. Damit ist einmal sicher die Haltung angesprochen, die man von MaturandInnen verlangt (Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung). Die AutorInnen der „Auslegeordnung“ verstehen aber noch mehr darunter: Es geht um den Aufbau eines Wissens und eines kritischen Denkens, das die Gymnasiastinnen befähigt, als mündige Bürgerinnen und Bürger gesellschaftliche Phänomene, Informationen und Bilder einzuordnen.

Dieser Gedanke ist letztlich gar nicht so weit weg vom Bildungsideal des Humboldtschen Gymnasium aus dem 19. Jahrhundert.

Die «Auslegeordnung» der EDK-Expertengruppe kündigt keine Revolution an. Wenn es aber im anstehenden Umwandlungsprozess des Gymnasiums gelänge, dass noch mehr Schülerinnen und Schüler Stoff nicht nur anhäufen, sondern vertiefen, hinterfragen, formen, dann wäre dies deutlich mehr als eine Reform.

Martin Zimmermann

 

Wochenbrief_1922