Die Frage nach der richtigen Antwort

Fragen sind manchmal ganz schön überfordernd. Warum wir uns diesen trotzdem stellen sollten, lesen Sie im aktuellen Wochenbrief.

Wie lautet die Pluralform von Hurrikan? Hurrikane oder Hurrikans? Diese Frage stellte mir kürzlich eine Schülerin im Deutschunterricht. Ich wusste die Antwort nicht. Eine kurze Internetrecherche ergab: Beide Lösungen sind richtig. Das Beispiel zeigt zum einen, dass nicht einmal im streng reglementierten Feld der Orthografie immer eine klare Eindeutigkeit und Einigkeit herrscht, und zum anderen, dass man im Schulalltag immer wieder auf Unbekanntes stösst.  

Gotthold Ephraim Lessing schrieb einst: «Alle Fragen bestürzen, deren wir nicht gewärtig sind.» Dem Zitat würden wohl nicht nur Schüler*innen zustimmen, wenn sie auf eine Prüfungsaufgabe keine Antwort wissen. Auch Lehrpersonen befinden sich während des Unterrichts im ständigen Dialog zwischen Frage und Antwort, Unwissen und Wissen.  

Immer wieder gestellte «organisatorische» Fragen wie «Machen wir heute ein Kahoot?» sind natürlich schnell beantwortet. Manchmal dauert es aber nicht lange, bis sich im Unterricht spontane Rätsel auftun. «Wäre es falsch, Goethe mit ö zu schreiben? Was ist ein Tohuwabohu eigentlich genau und woher kommt die Wendung «etwas ausbaden?» Kennt man die Antwort nicht, so schafft zum Glück das Internet schnell Abhilfe. 

Doch was, wenn man bei spezifischen Fragen, die eine Fachlehrperson eigentlich kompetent beantworten können müsste, ins Schwimmen gerät? Wie reagiert man, wenn einem erst inmitten eines Fragenhagels plötzlich bewusst wird, dass man selber gar nicht so genau erklären kann, wieso man nun «eislaufen» zusammenschreibt und «Rad fahren» getrennt? Eine ad hoc zusammengereimte Halbwahrheit dahinzuschwurbeln, ist wahrscheinlich die denkbar schlechteste Option, denn solche Flunkereien bleiben selten unentdeckt und führen umso mehr an den Pranger. 

Ich denke, die Erkenntnis, dass Lehrpersonen nicht allwissend sind und Fehler machen, kann für Schüler*innen auch bestärkend sein. So bricht in meinen Klassen zumindest manchmal eine kleine Euphorie aus, wenn jemand einen Fehler auf den Folien bemerkt oder einen Widerspruch aufdeckt. Wieso nicht eigene Fehler und Wissenslücken zugeben und sich auch mal von den Schüler*innen etwas erklären lassen? Die Glaubwürdigkeit einer Lehrperson liegt womöglich mehr in deren Umgang mit Unwissen als in der Perfektion. Und ein Trostpflaster bietet immerhin die Tatsache, dass sich das Unwissen durch Lernbereitschaft und mehrmaliges Nochmal-über-die Bücher-Gehen nach und nach in Wissen umwandelt. 

Auch kritische, vermeintlich provokante Fragen wie etwa «Wozu müssen wir erkennen, welches der Kern eines Satzgliedes ist?», scheinen erstmal entwaffnend, sind in Wahrheit alles andere als destruktiv und bringen einen vielleicht zum Überdenken des eigenen Unterrichts. Was ist heutzutage wirklich relevant, und was könnte zugunsten eines anderen Inhalts gekippt werden? Die Antwort «Weil es im Lehrplan steht» reicht vielleicht nicht aus, um alles zu rechtfertigen.  

Die schwierigsten aller Fragen kommen im Deutschunterricht aber nicht im Zusammenhang mit der Grammatik und deren Verteidigung auf, sondern lenken in gesellschaftliche, philosophische, moralische Tiefen. «Darf ein Mensch für das Wohl von vielen geopfert werden? Ist Schuld teilbar? Haben alle Menschen Würde verdient?» Es sind Fragen, auf die keine Patentlösungen, kein eindeutiges Ja oder Nein, kein Richtig oder Falsch. Bei Literaturbesprechungen beispielsweise kann der Eindruck entstehen, dass alles schwammig und nichts konkret ist, und dass man, je länger man über etwas nachdenkt, desto tiefer im Sumpf der Spekulation versinkt. Wenn es also für einen Sachverhalt tausend verschiedene Interpretationsansätze gibt und mehrere konkurrierende Antworten weder eindeutig richtig noch falsch sind – wieso wird dann überhaupt noch darüber diskutiert? Und wie können dann Antworten zu schwierigen Fragen noch beurteilt werden? 

Auch auf diese Fragen gibt es keine pfannenfertige Musterlösung. Aber ich glaube, das Suchen nach einer Antwort ist häufig die Antwort selbst. Und je eingehender nachgeforscht und reflektiert wird, desto eher kommen wir der Frage auf den Grund und desto mehr lernen wir dazu. Albert Einstein sagte: «Wichtig ist, dass man nie aufhört zu fragen.» Dem möchte ich hinzufügen, dass es genauso wichtig ist, sich diesen Fragen immer wieder neu zu stellen und nach Antworten zu suchen. 

Laura Hertel, Deutschlehrperson an der KUE

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