Erfahrungen und späte Lerneffekte

Wer schreibt, tut dies in der Regel mit Herzblut. Deshalb sind Korrekturen von Texten nicht immer einfach zu ertragen.

Es war schlimm für mich, als ich während meiner Mittelschulzeit eine ungenügende Aufsatznote entgegennehmen musste. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Groll, den ich damals empfand, und natürlich auch an die Enttäuschung.

Es ging um eine Erzählung, auf die ich sehr stolz war. Wie ich die Geschichte aufgebaut hatte, weiss ich nicht mehr, aber die Pointe lag darin, dass ich am Schluss die Hauptfigur zwar sterben liess, dass ich aber ihrem Tod einen Sinn geben wollte. Dies versuchte ich zu erreichen, indem ich in einem grossen Schlussbild die Leiche an einer ganz besonderen Stelle platzierte. Sie lag nämlich inmitten eines Kreises, den ich als Symbol der Geborgenheit und der Vollkommenheit verstehen wollte.

Die Lehrerin verstand meine Idee gar nicht, sie gab mir eine 3 oder eine 3-4, ich weiss es nicht mehr. Der Schluss sei absurd, das wirke nur lächerlich. Ich war beleidigt.

Da ich den Text nicht mehr habe, lässt sich nicht überprüfen, ob einfach ein Missverständnis vorlag oder ob mein Text schlicht und einfach misslungen war. Ich halte beides für möglich.

Interessant finde ich aber, dass ich dieses Negativ-Erlebnis bis heute nicht vergessen habe. Der Vorfall muss mich in einer bestimmten Art geprägt haben, obwohl ich wahrscheinlich damals im Sinne des Schreibunterrichts nichts direkt daraus gelernt hatte.

Erst viel später im Studium verstand ich nämlich, dass tatsächlich in vielen Erzählungen Beschreibungen dazu dienen, innere Vorgänge der Personen darzustellen. (Autoren aus der Zeit des Realismus sind Meister in dieser Technik. Man lese etwa den Beginn von Gottfried Kellers Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe», da wird der sich anbahnende Konflikt quasi geometrisch genau abgezirkelt.)

Ich habe also vermutlich nichts aus der ungenügenden Note gelernt, weil ich gar nicht in der Lage war, die Kritik der Lehrerin nachzuvollziehen. Dennoch bleibt die Erfahrung, die ich dabei machte, für mich auch heute noch wichtig.

Als einer, der später selber Aufsätze korrigierte und bewertete, habe ich ab und zu an meine Deutschlehrerin gedacht, die zu ihrem Urteil als Fachfrau stand und meinen Text als misslungen taxierte. Wenn sie damals nicht aufgrund ihrer Fachkompetenz die Kritik so deutlich formuliert hätte, wäre gar nichts passiert. Ich hätte einfach eine schulische Übung (Aufsatz) absolviert. Die ungenügende Note und die Kritik meiner damaligen Lehrerin machten den Text aber für mich zu einem Ereignis, das ich nicht vergessen habe. Der eigentliche Lerneffekt entfaltete sich erst viel später, als ich nämlich so weit war, die Überlegungen meiner Lehrerin zu verstehen.

Diese Situation ist typisch für das, was bei schulischen Bewertungen passieren kann. Die Spannung, die bei der Notengebung gelegentlich entsteht, müssen wir alle immer wieder ertragen.

Martin Zimmermann

Wochenbrief_1948