Fernunterricht?

Wie wir über eine Sache denken, hängt auch davon ab, wie wir sie benennen. Was das für den Fernunterricht heisst, lesen Sie im aktuellen Wochenbrief.

Was für eine sympathische Stimme, meinte ich neulich zu meiner Tochter, die im Wohnzimmer spätabends eine Medizinvorlesung hörte und auf dem iPad Mikroskop-Aufnahmen beschriftete. Stimmt, entgegnete sie, aber nur, weil ich den Podcast in eineinhalbfacher Geschwindigkeit abspiele. Die Situation ist symptomatisch für den sogenannten „Fernunterricht“: Die gewohnte Aufteilung zwischen Lern- und Lebensraum wird aufgeweicht, zeitliche Abläufe verschieben sich, eingespielten Routinen geraten durcheinander. Ein Vortragsstil, der im normalen Unterrichtsbetrieb begeistert, weil die Präsenz des Redners den Raum füllt, auch wenn er eine Pause macht, funktioniert plötzlich nicht mehr. Motivation, Zeitregime und Lernstrategien müssen jetzt ohne feste Tagesstruktur und soziales Umfeld der Klasse und ohne die gezielten Hilfestellungen einer Lehrperson greifen.

Es ist nicht leicht, eine passende Bezeichnung zu finden für das, was sich seit einigen Wochen mehr oder weniger eingespielt hat. Um „Homeschooling“, wo Eltern – oft aus weltanschaulichen Gründen – die Aufgaben der Lehrperson übernehmen, handelt es sich am Gymnasium sicher nicht. Das heisst nicht, dass die Eltern nicht punktuell einmal helfen mögen. Auch der Ausdruck „Lernen mit digitalen Medien“ trifft es nicht wirklich, auch wenn viele Schulen einen Digitalisierungsschub gemacht haben: Diese Medien sollen ja mit allen möglichen Interaktionsformen auf möglichst intelligente Art verzahnt sein und Begegnung und Auseinandersetzung im gemeinsamen Präsenz- und Resonanzraum Schule nicht ersetzen.

Auch der Ausdruck „Fernunterricht“ ist irreführend: Darunter versteht man in der Regel Studienprogramme fürs Selbststudium, die von langer Hand und oft mit grossem Aufwand vorbereitet wurden, zum Beispiel die von Universitäten produzierten sogenannten Mooc, die Massive Open Online Courses. Wer sich mit Genuss und Gewinn ein Beispiel davon ansehen möchte, kann in den 24teiligen Justice Course reinschnuppern, eine Harvard-Vorlesungen des Philosophen Michael Sandel.

Warum sich der Ausdruck „Fernunterricht“ im Moment dennoch durchgesetzt hat, ist schwer zu sagen. Vielleicht weil er suggeriert, dass das Gleiche jetzt einfach aus der Ferne gemacht werden kann? Oder weil er an Fernsteuerung und Kontrolle erinnert jetzt, da vieles ausser Kontrolle geraten ist? Weil es also weniger um Nähe und Ferne als um Steuerung geht? Der Ausdruck „Videokonferenz“ liesse sich ähnlich kritisch hinterfragen: Es bestehen eben doch gewichtige Unterschiede zwischen einer Schulstunde und einem Businessmeeting.

Der Wortlaut – in zeitgemässem Wording Wording genannt–, also die Art und Weise, wie wir etwas benennen, prägt dessen Wahrnehmung. Es macht einen Unterschied, ob ich von  „Wetterkapriolen“, „Klimawandel“, „Klimakrise“, „Klimaexplosion“, „Klimakollaps“, „Heisszeit“, „Global Warming“ oder von Selbstverbrennung spreche (wie der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Hans Joachim Schellnhuber, in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 2015). Und so bevorzugt es die WHO seit neustem, von physical statt von social distancing zu sprechen, um die Bedeutung der sozialen Beziehungen nicht zu schmälern.

Beim Unterricht unter den aktuellen Bedingungen ist das alles nicht so folgenschwer, aber dennoch: Wenn am 8. Juni der Unterricht in den Schulräumen (hoffentlich) wieder einsetzt, werden wir im Team an der KUE mit den Schülerinnen und Schülern genau analysieren, was funktioniert hat und was nicht, welche Tools hilfreich waren und welche didaktischen Settings, Arbeitsaufträge, Lernprogramme und Projekte ertragreich waren. Die jetzige mediale Totalverschiebung ist wie ein Brennglas: Sie legt schonungslos auch die problematischen Seiten digitalisierten Unterrichts offen. Sie konfrontiert uns aber ebenso mit der unangenehmen Frage, ob wir die gemeinsame Präsenz gemeinsamer Lebenszeit wirklich immer als grosses Geschenk angenommen und entsprechend genutzt haben.

Im Moment geben wir alle unser Bestes, noch mindestens fünf Wochen lang. Wir tun gut daran, nicht durch unreflektierte Bezeichnungen den Blick darauf schon jetzt zu verstellen. Ernüchterungen über die Möglichkeiten von sogenanntem „Fernunterricht“ und „Videokonferenzen“ wären dann nämlich auch die Folge vorschnellen Bezeichnens. Es wäre ein Jammer, wenn diese Ernüchterungen dazu führen würden, den Schwung, der das Schulsystem als Ganzes erfasst hat, vorschnell abzubremsen.

Jürg Berthold

Wochenbrief 20_19