Gefährden Vorbilder die eigene Authentizität?

Sind Vorbilder verdächtig? Warum man welche haben sollte, davon handelt der aktuelle Wochenbrief.

Das Wort «Vorbild» kommt bei jungen Menschen nicht so gut an, vor allem nicht im Singular. Das habe ich in verschiedenen Gesprächen bemerkt. «Vorbilder» funktioniert etwas besser, wahrscheinlich weil der Plural zum Ausdruck bringt, dass ein einzelner Mensch nicht alle Bereiche abdecken kann, die einem für die eigene Identität wichtig sind. Vielleicht hat man Angst, dass der eigene Weg weniger individuell erscheint, vielleicht erinnert man sich an historische Situationen, in denen die Orientierung an Idolen zu kritikloser Gefolgschaft geführt haben und der Glaube an bessere Möglichkeit des Menschseins missbraucht wurden. Mir ist, als hätte ich in dem Alter klarer gewusst: So wie der möchte ich Fussball spielen können, so wie die möchte ich schreiben können. Eine solche Reise möchte ich auch mal machen. Und ein Leben wie jenes möchte ich führen. Noch heute finde ich Menschen auch deshalb inspirierend, weil sie mir helfen herauszufinden, was mir wichtig ist. Und sie leben mir vor, was möglich ist.

Die aktuelle Kultur der Wokeness ist demgegenüber verengt auf das Eigene. Immer schon erscheint der eigene Weg gefährdet. Regelmässig wird deshalb Kants Aufforderung, den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, missverstanden. Als müsse man alles aus eigener Kraft hervorbringen. Dabei heisst Selberdenken nur, die Freiheit zu haben, nichts unbesehen übernehmen zu müssen.

Gleichzeitig ist Selbstwirksamkeit, vor allem im pädagogischen Diskurs, zu einem Modewort geworden. Zu Recht, wie ich meine. Damit betont man, dass ein wichtiges Ziel der Schule darin besteht, das Vertrauen in die eigenen Kräfte zu stärken. Die «Selbstwirksamkeitserwartung» (seltefficacy, so der Begriff der sozialkognitiven Lerntheorie Albert Banduras aus den 1970er-Jahren) steigt, wenn man positive Erlebnisse macht. Herausforderungen, die man gemeistert hat, machen einen fit, mit Zuversicht an neue Aufgaben heranzugehen. Deshalb ist es so wichtig, dass Lehrpersonen zwar loben, dies aber im richtigen Moment und aus den richtigen Gründen tun. Nur wer die Erfahrung tatsächlicher Stärke macht, gewinnt daraus Kraft, die auch trägt. Falsches Lob ist hohl und verblasst schnell.

Interessant ist nun, dass die sozialpsychologische Forschung zeigt, dass es nicht nur eigene Erlebnisse sind, die die Selbstwirksamkeitserwartung steigern. Beobachtet man Menschen, die ähnlich sind wie man selbst, dass sie etwas schaffen, steigt die Zuversicht, es ihnen nicht nur gleichtun zu wollen, sondern dies auch besser zu können. Deshalb ist es so wichtig, dass Frauen in den Naturwissenschaften Lehrerinnen sind. Deshalb ist es so zentral, welche Haltungen Lehrpersonen haben – und nicht nur, was sie unterrichten.

Vielleicht liegt es tatsächlich nur am Wort Vorbild. In der Sache scheint es mir ausgemacht, dass es zur Eigenart des Menschen gehört, besser sein zu können und nicht dem erstbesten Impuls zu folgen. Von Vorbildern sollte man so oder so weniger sprechen als ihnen nachzuleben und zu versuchen, es ihnen gleichtun. Dann wird das Demaskieren auch weniger wichtig.

Jürg Berthold

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