Hikikomori

"Hikikomori" heissen Menschen, die ihr Zimmer nicht mehr verlassen. Das Phänomen aus Japan klingt vertraut. Gleichzeitig ist in der momentanen Situation alles anders. Wie anders, das lesen Sie hier.

Till, die Hauptfigur in Kevin Kuhns Debut-Roman "Hikikomori", ist ein Jugendlicher, der sich aus der Gesellschaft verabschiedet hat: Er verlässt sein Zimmer nicht mehr und ist in eine virtuelle Welt verschwunden. Zunehmend verwahrlost, will er von Schule und Elternhaus nichts mehr wissen. Was Kuhn im Jahr 2013 beschreibt, ist aber nicht nur ein fiktives kafkaeskes Setting. Er griff ein reales Phänomen auf, das seit Ende der 1990er-Jahre in Japan den Namen «Hikikomori» trägt. Schon 2012 warnte auch Pro Juventute, dass die "Zivilisationskrankheit Hikikomori" auch die Schweiz erreicht habe: «Immer mehr Schweizer Jugendliche ziehen sich komplett zurück. Sie sperren sich monatelang in ihrem Zimmer ein, brechen alle Kontakte ab und gehen zum Teil nicht mal mehr auf die Toilette. 12‘000 Jugendliche gehören hierzulande zu diesen Eremiten der Moderne.» Aktuell leiden laut Schätzungen in Japan angeblich über eine Million Menschen an Hikikomori, was gemäss der Definition des Japanischen Gesundheitsministeriums heisst, dass sie sich seit sechs Monaten und mehr von der Gesellschaft absondern.

Fremd, doch plötzlich auch seltsam vertraut klingt das alles in unseren Ohren, zumindest auf den ersten Blick. Und dabei sind es erst gut zwei Wochen … Bei japanischen Jugendlichen ist der Leistungsdruck in der Schule eine der Hauptursachen für den Rückzug. Ganz anders hier: Die Aufgaben rhythmisieren den Tag, vermitteln ein Minimum an Struktur. Die KUE ist bemüht, dass nicht ein zusätzlicher schulischer Druck zur psychisch belastenden Situation hinzukommt.

Für unsere Jugendlichen stellt das schulische Netzwerk in der gegenwärtigen Situation einen wichtigen Bezug zur Aussenwelt dar. Wir wollen, dass nicht nur Unterricht und Lernen weitergehen, sondern dass auch die Beziehungsfäden zu den Schülerinnen und Schülern nicht reissen. Unterricht, das ist nicht einfach „Fernunterricht“, wie sich die pauschale Redeweise einzubürgern begonnen hat. Es ist ein komplexes Ganzes aus Aufträgen mit unterschiedlichen Zeithorizonten, Instruktionsvideos und Vertiefungsaufgaben im Sinne von „Flipped Classroom“, Gruppen- und Einzelgesprächen über Videokonferenzen, produktorientierten Aufgabenstellungen oder prozessorientierten Schreibaufträgen.

Trotz interessanter Settings bleibt die Tatsache, dass wir uns wieder auf die Begegnungen im realen Leben freuen, nicht nur die Lehrpersonen: „Wer hätte das gedacht“, schreibt ein Schüler, „dass ich mich einst danach sehnen würde, wieder in die Schule gehen zu können.“ Auch wenn damit in erster Linie die Kollegen und die sozialen Kontakte gemeint sind, kommt es doch zu interessanten Verschiebungen bei unseren Wertungen, und zwar auf vielen Ebenen.

Die gegenwärtige Situation wird vermutlich nicht nur die Digitalisierung im schulischen Umfeld selbstverständlicher verankern – wobei sie an der KUE von Anfang an fester Bestandteil und auch im Leitbild verankert war. Was wir erleben, ruft uns auch den Wert der gemeinsamen Präsenz in Erinnerung. Wir werden uns selbstkritisch fragen müssen, ob wir diesen Wert klar genug erkannt haben. Ob wir mit der damit verbundene Lebenszeit von jungen Menschen  immer sorgfältig genug umgegangen sind. So hoffe ich, dass die wir uns bald nicht nur über die Aufhebung der Einschränkungen freuen werden, sondern uns auch zu fragen getrauen, wie man die gemeinsame Anwesenheit optimal nutzen kann – wo sie nötig ist und wo nicht.

Jürg Berthold

Wochenbrief 20_15