Das neue Jahr beginnt mit einem schulischen Novum. Die sogenannte "Start- und Vertiefungswoche", die die Bildungsdirektorin im Dezember für die Mittel- und Berufsschulen bestimmt hat, stellt eine Form von Unterricht dar, die es so noch nie gegeben hat: Der Präsenzunterricht im neuen Kalenderjahr setzt erst in der zweiten Woche ein. Damit sollen die Schulen einen kleinen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten. Das Mittel heisst "Vertiefung". Was äusserlich wie eine Ferienverlängerung aussieht (und es da und dort auch sein mag), ist im Grunde freiwerdende Zeit, die für das genutzt werden kann, was im getakteten Unterrichtsalltag zu kurz kommt. Deshalb wird die Woche auch nicht durch Formen von Online-Unterricht bestimmt werden – wie es während des Lockdowns im vergangenen Frühjahr der Fall war. Im Zentrum stehen Arbeitsaufträge, die der Vertiefung dienen sollen. Für Diskussionen mit Kolleg*innen oder Fragen an die Lehrpersonen stehen die üblichen Kanäle zur Verfügung, an die man sich gewöhnt hat. Eigentlich handelt es sich um Homeoffice für die Schüler- und Lehrerschaft.
Sicher, die Analogie stimmt nicht in allen Einzelheiten, sie ist aber doch erhellend. So werden die Vor- und Nachteile wohl ähnlich wie beim Homeoffice in der Arbeitswelt wahrgenommen werden: Man kann sich die Zeit selber einteilen. Arbeiten, für die man besonders fokussiert sein muss, oder solche, bei denen man über eine längere Zeit dranbleiben möchte, werden einem leichter von der Hand gehen. Kleinere, eher mechanische Aufträge helfen einem, die Tage zu rhythmisieren. Das Gelingen wird auch von den äusseren Umständen abhängen – wie etwa dem Wetter während dieser Woche, der Ausstattung des Arbeitsumfeldes oder der innerfamiliären Situation. Gleichzeitig locken all die Ablenkungen, die auch bei Umfragen zum Homeoffice genannt werden: Netflix und Co. sind nur ein Klick entfernt, Bett und Sofa blicken einen verführerisch an, der Gang zum Kühlschrank ist kurz. Damit sind die Anforderungen an die Selbstdisziplin höher als sonst. Unterrichtssettings wie dieses bieten damit auch Gelegenheit zur gesteigerten Selbstbeobachtung: Was brauche ich, damit ich mich konzentrieren und an einer Sache dranbleiben kann? Wo habe ich zu wenig Biss? Was motiviert mich, und wie motiviere ich mich selber, wenn die Begeisterung nachlässt? Und wo gibt es Situationen, in denen ich so vertieft bin, dass ich die Zeit ganz vergesse? Gemäss Lernwirkungsforschung begleiten solche Fragen an einen selbst im Idealfall das eigene Lernen immer. Die Vertiefungswoche kann deshalb als Chance gesehen werden, sich expliziter und intensiver auch mit solchen für die Lernfortschritte wichtigen Fragen zu beschäftigen.
Einigen der mir bekannten Sprachen verwenden für die Übersetzung von «vertiefen» das Bild des Eintauchens (immerger, immergersi, to immerse). Vertiefe ich mich, so bin ich ganz von der Sache umgeben, auf die ich mich einlasse. Ich bleibe nicht an der Oberfläche, sondern gehe den Dingen auf den Grund. Dazu braucht es einen längeren Atem, auch das gehört zum Bild. Der ungarischstämmige Mihály Csíkszentmihály mit dem schwer zu merkenden Namen (Aussprache hier), emeritierter Professor für Psychologie in Chicago, hat solche Phänomene des Eintauchens und Situationen, in denen man ganz bei sich ist, erforscht und 1975 den Begriff des Flow-Erlebnisses dafür geprägt. Wir alle kennen solche Momente: Wir vergessen dann die Zeit, gehen ganz in dem auf, was wir grad tun, die Aussenwelt scheint zu schwinden. Oft sind die Erinnerungen daran auch besonders intensiv – etwa an eine Lektüre, einen Spieleabend, ein schönes Gespräch, eine sportliche Leistung. «Lost in focused intensity» hat der Schwimmer und mehrfache Olympiasieger Pablo Morales diesen Zustand einer Präsenzerfahrung beschrieben, die oft auch mit grosser Befriedigung und einem Glücksgefühl verbunden ist.
Sicher, auch in dieser Woche werden viele kleine Brötchen gebacken, und die meisten werden mit den üblichen Ablenkungen kämpfen. Aber ich bin zuversichtlich: Bei allen, die sich auf die Vertiefungsangebote einlassen, wird es kürzere oder längere Phasen geben, in denen sich Flow-Erlebnisse einstellen. Ganz gleich, ob es sich dabei um eine Matheaufgabe handelt, in die man sich festgebissen hat, um ein Buchkapitel, mit dem man schneller durch war, als man gedacht hatte, oder um eine Vokabelliste, die plötzlich gar nicht so umfangreich war. Es ist wichtig, dass man solche Highlights der eigenen Lernbiographie gebührend würdigt und ein bisschen stolz darauf ist, dass man auf dem richtigen Weg ist.
Jürg Berthold
Wochenbrief_21_01