Honig aus Uetikon

Was haben Bienen und Bildung gemeinsam? Lesen Sie dazu den ersten Wochenbrief 2019, der durchaus programmatischen Charakter haben soll.

Als Weihnachtsgeschenk erhielten alle Angestellten der KUE zwei Gläser Honig, den wir von unserem Nachbarn, dem Imker Walter Graf aus Uetikon, bezogen hatten. Wir dankten zudem allen, die sich im letzten Jahr beim Aufbau der neuen Schule eingesetzt hatten, mit einem Zitat von Montaigne (1533 – 1592).

«Die Bienen holen sich von hier- und dorther aus den Blumen ihre Beute, aber daraus machen sie Honig, und der gehört ihnen voll und ganz: Das ist kein Thymian mehr, kein Majoran. So soll auch der Zögling alles, was er anderen entlehnt hat, sich anverwandeln und zu einem voll und ganz ihm gehörenden Werk verschmelzen: zu seinem eigenen Urteil. Auf nichts anderes, als es zu bilden, haben seine Erziehung und die Mühen seines Studiums abzuzielen.» (Übersetzung von Hans Stilett).

Wie die Bienen sollen die «Zöglinge» also, das heisst die Schülerinnen und Schüler, aus verschiedenen Quellen Wissenspartikel holen («entlehnen»), diese übernehmen («sich anverwandeln») und zu einem eigenen Resultat verarbeiten («verschmelzen»), nämlich zu einem «eigenen Urteil».

Montaignes Vorstellung von Bildung ist erstaunlich aktuell. Gerade in unseren Zeiten der Informationsflut und der damit möglichen Desinformation hat die Kompetenz der Urteilskraft zentrale Bedeutung. Es gilt, falsche Überlegungen zu durchschauen und Behauptetes von Begründetem zu unterscheiden.

Interessant ist, dass in Montaignes Bild die Lehrerinnen und Lehrer nicht vorkommen. Es stellt die Lernenden in den Mittelpunkt, welche quasi von Blüte zu Blüte fliegen und mit Hartnäckigkeit «das Werk» durch ihr eigenes Tun vollenden. Auch dies passt zu aktuellen didaktischen Konzepten. Man lernt kaum durch blosse Instruktion von Dozenten.

Wie alle Gleichnisse sollte aber auch das Bienen-Bild nicht überstrapaziert werden. Die Lehrpersonen behalten ihre Bedeutung. Sie dürfen nur nicht ausschliesslich «Stoffvermittler» sein. Es muss uns Lehrerinnen und Lehrern vielmehr darum gehen, die Jugendlichen in Bewegung zu bringen, ihnen Gelegenheiten zu Entdeckungen, Erkenntnissen und Erfahrungen zu bieten. Wenn die Lernenden sich vertieft mit Fragen auseinandersetzen können, um sich Wissen «anzuverwandeln», werden sie gebildet.

Dass es dazu auch viel Zeit und Übung braucht, um wichtige Techniken zu festigen, versteht sich. Lernen verlangt den gleichen Fleiss, den man den Uetiker Bienen zuschreibt, welche uns den wunderbaren Honig beschert haben.

Ich wünsche allen ein schönes und ertragreiches 2019!

Martin Zimmermann

 

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