In allen möglichen Farben

Und wieder hat es nicht sein sollen! Wie wir die Schüler*innen der 5. Klasse trotz Corona an die Maturaarbeit heranführen.

Alles wäre so schön eingefädelt gewesen: Die beiden 5. Klassen wären nach Wetzikon gereist, hätten die Ausstellung der über 200 Arbeiten besucht, KZO-Schüler*innen wären für Fragen zur Verfügung gestanden. Zudem hätten unsere Schüler, verteilt auf ein paar Kantonsschulen in Zürich, je einer Reihe von mündlichen Präsentationen, die zum erfolgreichen Absolvieren dazugehören, beiwohnen können. Wozu der ganze Aufwand? Damit eine Tradition beginnen kann, die auch die KUE prägen wird. Niveau, Form und Breite der Maturaarbeit sind nämlich auch stark bestimmt durch das, was der jeweilige Vorgängerjahrgang macht. Da ein solcher bei uns noch fehlt, müssen wir unseren beiden Klassen auf andere Weise einen Einblick in die Vielfalt von möglichen Arbeiten vermitteln. Ganz pandemiekonform wird nun in der letzten Semesterwoche eine kleine Delegation der KZO an der KUE zu Gast sein und eine grosse Sammlung von Arbeiten mitbringen.

Die Breite dessen, was möglich ist, ist in der Tat erstaunlich. Sie ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass eine solche Arbeit in allen Fächern verfasst werden kann. Da können Apps programmiert, im Feld Tiere beobachtet, Wasserproben untersucht oder Umfrageergebnisse ausgewertet werden. Da kann eine literarische Übersetzung entstehen, ein Musikstück komponiert, eine Skulptur geschaffen werden. Zum anderen sind auch innerhalb der einzelnen Fächer ganz unterschiedliche Arbeiten möglich. So kann in Deutsch, das ich unterrichte, eine literatur- oder sprachwissenschaftliche Fragestellung verfolgt, aber auch ein Roman oder Gedichtband verfasst oder ein Magazin oder ein Film hergestellt werden. Der Entfaltungsmöglichkeit der Schülerindividualitäten sind praktisch fast keine Grenzen gesetzt! Jedes Jahr bin ich von neuem erstaunt, was an Überraschendem entsteht. Das wird an der KUE nicht anders sein als an anderen Schulen.

Spannend ist auch, dass sich die Rolle der Lehrperson verändert. In der Eins-zu-eins-Betreuung hat sie die Aufgabe, den Prozess zu begleiten, wichtige Vorentscheidungen mitzutragen, erste Resultate zu diskutieren, Rückmeldungen und Hinweise zu geben. Im jedem Fall lernt auch sie eine ganze Menge, nicht nur die Schülerin, die die Arbeit verfasst. Aber auch die psychologische Dimension ist ein wichtiger Bestandteil des Betreuungsprozesses: Bisweilen muss man auch aufbauen, motivieren, trösten, loben oder Grenzen setzen, man muss Beine machen und Resultate einfordern. Neu ist im Vergleich zur sonstigen Schulrealität auch, dass nach oben viel Luft ist: Die Schüler*innen werden die Erfahrung machen, dass sie nun einmal richtig Gas geben können. Denn das, was sie sich vornehmen, liegt ihnen meist ganz speziell am Herzen. Und sie werden lernen, dass zu einem solchen Prozess, der sich über ein ganzes Jahr hinzieht, notwendigerweise alle Phasen gehören: die Euphorie des Anfangs, die ersten Probleme und Rückschläge, das Rausschieben und das schlechte Gewissen, das Sich-Durchbeissen-Müssen. Aber auch das Glück, wenn man das fertige Produkt in der Hand hält. Und sicher werden sie auch erfahren, dass die Schlussnote den Wert, den die Arbeit hatte, nur bedingt wird abbilden können – auch wenn sie sehr gut ist.

Auf die vielfarbige Palette, die wir in einem Jahr ausstellen und an einem Anlass mit halböffentlichen Präsentationen zeigen werden, freuen wir uns schon jetzt.

Jürg Berthold

Wochenbrief_21_06