«Jeder ist in seiner eigenen Welt»

Das Wichtigste beim Debattieren ist das Zuhören. Warum, erfahren Sie im aktuellen Wochenbrief.

Bild: Zachary Spears auf Unsplash

«Jeder ist in seiner eigenen Welt, aber meine ist die richtige», lautet der Refrain eines Songs der Indie-Pop-Band «Lassie-Singers» aus Berlin-Kreuzberg, deren Konzerte ich in den 90er Jahren mit Begeisterung besuchte. Der Text des Liedes bezieht sich – typisch für die oftmals etwas provokative Unsinns-Poesie der Lassie-Singers – auf eine Hecke, eine Waschmaschine und einen Kanarienvogel, die alle (natürlich!) auf eine kleine «Welt» begrenzt sind. Aber mir geht die Liedzeile oft in Bezug auf uns Menschen im Kopf herum, zum Beispiel wenn unter Lehrpersonen zur Sprache kommt, dass die Diskussion gesellschaftspolitischer Themen in den Klassenzimmern schwieriger geworden sei.

Schon immer haben Menschen sich ihre «eigene Welt» konstruiert, sich nämlich zum Beispiel Freunde ausgesucht, die ähnliche Meinungen wie sie vertreten, und diejenigen Zeitungen gelesen, deren politische Richtung ihnen passt. Doch heute wird unsere Wahrnehmung dessen, was um uns herum vor sich geht, zusätzlich durch Algorithmen gesteuert. Filterblasen entstehen laut dem Landesmedienzentrum Baden-Württemberg durch den Versuch, News-Feeds oder Suchergebnisse zu personalisieren. Durch die über uns gesammelten Daten werden unsere Interessen deutlich, die nächsten Angebote bestätigen diese oder ähneln ihnen zumindest, es werden Nachrichten und Videos ausgewählt, die uns interessieren oder gefallen. Das muss man nicht überbewerten: Eine Filterblase zu umgehen oder zumindest ein Bewusstsein für sie zu schaffen, kann man mit Medienkompetenz lernen.

Vielleicht aber sind viele junge (und auch ältere) Menschen auch wegen der ständig für sie getroffenen Auswahl an Informationen immer weniger daran gewöhnt, andere Meinungen anzuhören, geschweige denn auf sie zu reagieren.

Das Projekt «Jugend debattiert» zielt auf den Meinungsaustausch. Es ist ein nationaler Wettbewerb, an dem zurzeit alle vierten Klassen der KUE im Deutschunterricht teilnehmen. In einem durch feste Regeln vorgegebenen Rahmen debattieren die Schüler:innen über gesellschaftspolitische Fragen, zum Beispiel über die Einführung einer Zuckersteuer oder eines Stimmrechts für Ausländer:innen. Nach einem Debattierwettbewerb innerhalb der Klassen treten am Montag und Dienstag dieser Woche die von den Klassen in die Halbfinals entsandten Vertreter:innen klassenübergreifend gegeneinander an. Die Sieger:innen messen sich im KUE-Finale am 27. November. Anschliessend wird im neuen Jahr der Debattierwettbewerb auf regionaler und schliesslich nationaler Ebene fortgeführt. Im letzten Jahr nahm Rhea Wyss (5b) für die KUE an der nationalen Ausscheidung in Bern teil.

Ziel des Debattierwettbewerbs ist es, rhetorische Kompetenzen zu trainieren, Sicherheit im Auftreten einzuüben, mit Argumenten zu überzeugen, Ausdrucksmöglichkeiten zu verbessern. Es wird also vornehmlich das Reden geübt. Im Hinblick auf das eingangs beschriebene Phänomen der «eigenen Welt» erscheint mir aber das Nicht-Reden mindestens genauso wichtig. Das Nicht-Reden, das Stillsein und Zuhören, gehört zu der im Debattierwettbewerb geforderten Kompetenz der Gesprächsfähigkeit. Gesprächsfähigkeit heisst: Kann der Redner oder die Rednerin den vom Gesprächspartner genannten Punkt aufgreifen und ihm etwas entgegensetzen? Dafür muss man zuhören können, man muss bereit sein, die Meinung und die Argumente des anderen erst einmal auszuhalten.

Im Rahmen von «Jugend debattiert», wo die Themen von den Lehrpersonen vorgegeben und die Positionen (Pro oder Kontra) ausgelost werden, ist das vielleicht kein Kunststück. Doch die Hoffnung besteht, dass sich das in diesem – zugegebenermassen etwas künstlichen – Rahmen eingeübte Zuhören auf den Alltag, auf reale kontroverse Themen überträgt. Wenn die Meinung des anderen, ein Stückchen seiner «Welt», gehört wird, kann die gemeinsame Diskussion beginnen, die für unser Zusammenleben und unsere Demokratie so wichtig ist.

Eugenie Bopp

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