Neulich erzählte mir ein alter Schulfreund von seinen Mühen, einen passenden Namen für ein wichtiges Projekt zu finden. Als ich ihn fragte, ob er es schon mit KI versucht habe, reagierte er skeptisch. Am nächsten Morgen schrieb er mir, er habe tatsächlich eine ganze Reihe sehr guter Vorschläge erhalten. Ein anderer Freund, der als Berater tätig ist, sagte, KI sei ein wichtiges Gegenüber, mit dem er sich täglich intensiv austausche. Und ein Radiologe berichtete mir, wie KI ihn bei der Auswertung von Bildern und beim Verfassen von Berichten unterstützt. Solche Geschichten aus der Arbeitswelt zu den unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten von KI erzählen viele. Der Ton schwankt dabei zwischen Euphorie und Apokalypse. Was bedeutet das alles für das Schulwesen? Vor allem für eine Schule wie die KUE, in deren Leitbild es heisst: «Die KUE geht aufgeschlossen, integrativ und kritisch mit Themen der Digitalisierung um»?
Klar ist, dass beim Entstehen des Leitbildes im Jahr 2018 niemand an ChatGPT und Co. dachte. Mit «Digitalisierung» war zunächst «BYOD» gemeint, also die Tatsache, dass Schüler:innen im Unterricht selbstverständlich über ein eigenes Gerät verfügen. Eines mit Stift, wie unsere Vorgabe heisst, damit es selbstverständlicher in unterschiedlichen Settings eingesetzt werden kann. Gemeint war auch, dass die Lehrpersonen ihren Unterricht möglichst souverän im Wechsel von analog und digital organisieren. Gemeint war, dass die Geräte die Schüler:innen nicht nur beim Recherchieren im Internet, sondern auch beim Erstellen von anspruchsvollen Produkten wie Postern, Podcasts oder Filmen unterstützen – also bei komplexeren Aufträgen im Sinne der Lernstufentaxonomie. Und gemeint waren Open-Book-Prüfungen, bis hin zu Maturprüfungen mit mehr oder weniger grossen Open-Book-Anteilen.
«Digitalisierung» wurde an der KUE gleichzeitig auch kritisch reflektiert – zum Beispiel in gesellschaftspolitischen Themenwochen oder, auf ganz anderer Ebene, von der Gesundheitskommission mit dem Fokus auf Ablenkung oder psychische Gesundheit. Als Schule, die auf dieser Basis mit einem im Schnitt sehr jungen Team neu starten konnte, kamen wir, bei allen Schwierigkeiten im Einzelnen, ziemlich gut zurecht. Bis November 2022, als die erste Version von ChatGPT für die Öffentlichkeit zugänglich wurde.
Das Bewusstsein, wie weitgehend KI die Ausgangssituation verändern würde, setzte sich nicht sofort durch. Aber mit jeder noch potenteren Version und jeder Diversifizierung der Tools wurde klar: Hier ändert sich etwas ganz grundlegend. Vor allem auch weil der Weg zurück versperrt ist. Für «BYOD» und alles, was damit gemeint war, hatte man sich ja aus guten Gründen entschieden: Weil das Internet das Verhältnis zum Wissen verändert hat, weil die Mittelschulen im Hinblick auf Studierfähigkeit und Gesellschaftsreife sich von den Entwicklungen nicht verschliessen können, weil man durch komplexere Aufträgen Unterricht wirklichkeitsnaher, individualisierter und motivierender gestalten kann. Selbst wenn man zu Papier und Bleistift zurückginge: KI bleibt Teil der Realität, auch bei allem, was selbstständige Aufträge zu Hause und Prüfungsvorbereitungen sind.
Sicher, man kann auf didaktisch-methodischer Ebene einiges tun – mit geschickt formulierten Aufträgen, mit Projekten, die den ausgewiesenen und reflektierten KI-Gebrauch schon implizieren, mit einer generellen Verlagerung in die Mündlichkeit, mit einem vermehrten Fokus auf den Prozess und mit enger Begleitung. Und selbstverständlich ist das präzise Prompten als etwas, was die Schule vermitteln muss, hinzugekommen. An der KUE herrscht eine offene Auseinandersetzung über diese Fragen. Und wir haben ausgewiesene Expert:innen wie etwa Sara Alloati, Philippe Wampfler oder Isa Grevener. Sie beraten andere Schulen und bieten Weiterbildungen an. Diese Beobachtungen und Gedanken stammen also nicht von jemandem, der das Lied der guten alten humanistischen Bildung anstimmen möchte. Aber Fakt ist trotzdem: Wir haben in meiner Einschätzung ein riesiges Problem.
Der Ausdruck «Hilferuf» im Titel impliziert, dass jemand zu Hilfe eilen könnte. Das sehe ich aber leider nicht. Die Hilfe kommt sicher nicht von jenen, die immer schon wussten, dass «Digitalisierung» ein Problem sei. Auch nicht zwingend von den Spezialist:innen, die ein noch tolleres Tool und weitere Kniffs fürs Prompten kennen. Und nicht von den Behörden, die Regeln und Vorschriften erlassen. Denn für all das müsste man viel mehr wissen, als das aktuell der Fall ist. Und dabei läuft die Zeit – Zeit, in der die Schulen Wege finden müssen, sich zurechtzufinden.
Vielleicht könnte man sich an dem orientieren, was der Anthropologe Claude Lévi-Strauss in Bezug auf Strategien erfolgreicher traditioneller Gesellschaften im Begriff bricolage zusammengefasst hat. Der bricoleur (das deutsche Wort «Bastler» klingt zu negativ) nutzt das, was gerade verfügbar ist. Nicht, indem er nach spezifischen, vorgefertigten Plänen arbeitet, sondern indem er spontan und kreativ mit dem bereits Vorhandenen arbeitet. Er improvisiert. In diesem Sinne sind wir an der KUE seit einiger Zeit am Thema dran, unter anderem auch in einer Arbeitsgruppe zum Thema KI. Wie sinnvolle Lernsettings und Projektaufträge entwickeln? Wie Schüler:innen motivieren, etwas selbst zu versuchen, wenn die KI schneller und oft viel besser ist? Wie KI in den Prozess integrieren und gleichzeitig Distanziertheit und kritisches Denken fördern? Wie den Schüler:innen beibringen, unterschiedliche Tools gewandt zu nutzen, und gleichzeitig Eigenleistungen im Blick zu behalten und zu fördern? Wie digital literacy und Gesellschaftsreife vermitteln in einer Zeit, die sich so schnell wandelt? – Das sind nur einige der Fragen, auf die die Schulen werden Antworten finden müssen.
Jürg Berthold
WB_25_2025