Kintsugi und Yohaku

Worin der Reiz des Brüchigen und Unvollständigen besteht und was das mit der Schule zu tun hat, lesen Sie im aktuellen Wochenbrief!

Die japanische Kultur kennt eine ganz eigene Art, über Kunst nachzudenken. Auch wenn mir der Zugang dazu letztlich leider verschlossen bleibt, da ich die Sprache nicht spreche, faszinieren mich diese Gedanken, und Japanisch zu lernen ist ein lange gehegter Wunsch.

Kintsugi zum Beispiel. Das ist eine traditionelle Methode, um etwas, das in Bruch gegangen ist, zu reparieren: Die Teile werden mit Goldstaub zusammengefügt, und zwar so, dass feine Linien ein Gefäss, eine Teeschale etwa, durchziehen. Der Makel wird nicht überdeckt, sondern ganz im Gegenteil betont und zu etwas besonders Wertvollem gemacht. "Die Wertschätzung der Fehlerhaftigkeit steht dabei im Zentrum", heisst es im entsprechenden Wikipedia-Eintrag. Gerade die Tatsache, dass etwas nicht perfekt ist, macht seinen Reiz aus. Nicht die Harmonie, sondern die Bruchhaftigkeit ist der Grund von allem. Ein anderes Prinzip heisst Yohaku: Hier geht es um die Kunst, nicht alles zu sagen. Erst die Leerstelle, das Nicht-Explizite enthüllt das Wesentliche, erst das Weiss der Umgebung lässt das, was sichtbar werden soll, zur Geltung kommen. Lässt man etwas frei oder spart man etwas aus, erreicht man mehr, als wenn man alles ausführen würde. Das Vorgehen wurde offenbar schon früh aus der chinesischen Tuschmalerei eingeführt, wo Wolken, Nebel, Himmel und Wasser bei Landschaften nicht gemalt, sondern nur durch die sorgfältigen Andeutungen der umgebenden Landschaft suggeriert wurden.

Beide Verfahrensweisen scheinen mir auf die Schule übertragbar zu sein, auch wenn einer Kennerin oder einem Kenner dieser Prinzipien solche Analogien bestimmt problematisch vorkommen werden. Aber dennoch: Wo, wenn nicht in der Schule muss – oder zumindest müsste – die Wertschätzung des Fehlerhaften im Vordergrund stehen? Der Spruch, dass man aus Fehlern lernt, ist nur die banalste Form dieser Einsicht. Und schon diese ist im Alltag weniger leicht umzusetzen, als einem die Redensart über die Lippen geht. Auch sonst spielen Brüche eine Rolle: sei es in der Gestalt von Misserfolgen, krummen Wegen oder Schicksalsschlägen, die uns prägen! Wieviel schwieriger ist es, deren Bedeutung für das Erwachsenwerden der Jugendlichen wirklich zu würdigen, obwohl schon zerbrochene Eierschalen uns zeigen, wie eng Zerstörung und Aufbruch zusammenhängen.

Auch die Bedeutung von Leerstellen, das Spiel mit Andeutungen ist zentral: Lebt guter Unterricht nicht von dem vielen, was ungesagt bleibt? Dem Rätselhaften, das einen nicht loslässt und weiterarbeitet, einen nicht in Ruhe lässt? Die Stelle im Text, die nicht erklärt und eindeutig gemacht wird, bewirkt vielleicht mehr als die Probleme, die geklärt werden. Gehört es nicht zur Reife der Lernenden zu merken, dass das, was man verstanden hat, nur ein Bruchteil dessen ist, was es zu sehen gäbe? Zu realisieren, dass man nur gekratzt hat an der Oberfläche? Auch hier geht einem die Redensart von der Spitze des Eisbergs oft etwas leicht über die Lippen. Auszuhalten, dass man eigentlich wenig verstanden hat und sich nicht an einfachen Erklärungen festzuhalten, auch das gehört zur Reife, wie sie die Mittelschulbildung anstrebt.

Ich wünsche uns an der KUE ein bisschen Kintsugi und Yohaku in diesem übertragenen Sinne. Und wer weiss, vielleicht vertieft sich jemand, der das ab nächstem Semester laufende Freifach Chinesisch besuchen wird, in diese Weltsicht in einem nicht-übertragenen Sinne.

Jürg Berthold, Prorektor


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PS. Ich habe den Text vor der Veröffentlichung unserer Biologie-Assistentin Viviane Knaus-Zobrist gezeigt. Sie hat mehrere Jahre in Japan gelebt hat und hat dort auch eine Ausbildung zur Origami-Lehrerin gemacht. Am letzten KUE-Tag hat sie allen aus dem Team eine kleine Einführung gegeben – als Übung, sich auf Fremdes einzulassen, auch das eine Haltung, die wir an der KUE gerne auch von uns Lehrpersonen fordern.