Leben basiert auf genetischer Information, die in der DNA-Doppelhelix festgeschrieben ist. Die Erbinformation wird vor jeder Zellteilung exakt verdoppelt, damit die Tochterzellen die gleiche Information erhalten. Ausgeklügelte Kontroll- und Reparaturmechanismen stellen sicher, dass allfällige Kopierfehler sogleich behoben werden. Dadurch erreicht der Kopiervorgang der DNA (Replikation genannt) eine Genauigkeit, die von Menschen geschaffene Maschinen weit in den Schatten stellt. Diese hohe Präzision ist auch vonnöten: Erbinformation, die sich von Zellteilung zu Zellteilung ändert, wäre keine verlässliche Grundlage für das Leben.
Wunderbar vielfältige Lebewesen bevölkern jede erdenkliche Nische unseres Planeten: Grosse und kleine Tiere zu Wasser, zu Land und in der Luft; Pflanzen mannigfaltiger Formen und Farben; faszinierende Pilze mit den weit verzweigten, unterirdischen Netzwerken ihrer Hyphen. Weniger sichtbar, aber nicht minder bedeutsam: Zahllose Bakterien, Archaeen und weitere Mikroorganismen, die aus lediglich einer Zelle bestehen – mikroskopisch kleine Überlebenskünstler, die überall anzutreffen sind (selbst in und auf uns). Diese Artenvielfalt ist das Ergebnis der Evolution. Während Jahrmillionen haben sich Arten graduell verändert, sind neue Arten entstanden, viele auch ausgestorben. Kleinste (und selten auch grössere) Veränderungen in der Erbinformation sind die wichtigste Triebfeder der Evolution. Ohne diese Änderungen, die meist während Zellteilungen geschehen, gäbe es nur Stillstand – Leben, wie wir es heute kennen, hätte sich nicht entwickelt.
Was gilt nun also: Muss die DNA vor einer Zellteilung äusserst präzise kopiert werden, damit die Erbinformation stabil bleibt? Oder sind Abweichungen unabdingbar, um Wandel zu ermöglichen?
Ein Beispiel für die Uneinigkeit innerhalb der Wissenschaft? Mitnichten! Beide Aussagen sind korrekt. Selbstverständlich muss der Kopiervorgang der DNA beinahe perfekt sein – aber eben nur beinahe. Sehr selten schleichen sich doch Fehler ein, und genau diese Fehler bilden die Spielwiese der Evolution. Die Balance zwischen rigider Stabilität und zufälligen Ungenauigkeiten muss also fein austariert sein. Oder anders formuliert: Zellen müssen die Regeln der Replikation sehr penibel befolgen – aber keinesfalls absolut, das wäre lebensfeindlich. Es ist ein eigentliches Sowohl-als-auch.
Was für die grundlegendsten Prozesse aller Zellen zutrifft, hat wohl auch für das menschliche Zusammenleben seine Gültigkeit – gerade auch an der Schule. Man kann sich farbig ausmalen, was passieren würde, wenn sich Lehrpersonen und Schüler:innen der KUE um sämtliche Regeln foutieren würden – an einen geordneten Schulbetrieb wäre kaum zu denken. Hingegen wäre es geradezu unmenschlich, sämtliche Regeln jederzeit strikt durchzusetzen. KUE-Rektor Jürg Berthold wünscht sich im Wochenbrief 16_2025 sehr treffend: «Wir wollen immer wieder auch für Einzelfälle einstehen und den Mut haben, besondere Lösungen für besondere Situationen zu finden.»
Übrigens: Bakterien sind sogar in der Lage, unter beschwerlichen Umweltbedingungen die Präzision der Replikation zu senken, folglich mehr Fehler zuzulassen. Dadurch erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit für Änderungen in der Erbinformation, welche das Überleben begünstigen. Die Kunst besteht also darin, Regeln nicht stur, sondern kontextabhängig anzuwenden. Nehmen wir uns ein Beispiel!
Hugo Stocker
Biologe und Mitglied der Schulkommission
WB_47_2025