Lernen von Corona

Die Pandemie ist vorerst vorbei oder zumindest im Hintergrund. Was wir aus den zwei Jahren lernen könnten, lesen Sie im aktuellen Wochenbrief.

Learning from Las Vegas aus dem Jahr 1972 ist ein Klassiker der Architekturtheorie. Darin werden aus der Analyse der verpönten Architektur der Wüstenstadt Erkenntnisse gewonnen. Was könnte es heissen, in diesem Sinne von Corona als etwas Negativem zu lernen – als Einzelne, als Schule, als Gesellschaft? Die folgende Zusammenstellung von drei mal drei Erkenntnissen ist eine kleine persönliche Auswahl eines solchen Lernprozesses. 

Mir wurde der Wert der Familie und der engsten Freunde klar. Nicht dass ich das vorher nicht gewusst hätte, aber in der langanhaltenden Krisensituation wird einem fast körperlich bewusst, was es heisst, verlässliche und belastbare Beziehungen zu haben. Auch das Thema Konzentration und Zerstreuung war ein Thema: Was heisst es, sich auf etwas einzulassen? Was braucht es, damit man die Herausforderungen meistern kann? Und das – so der dritte Punkt – hat mir in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, warum die Fähigkeit, sich auf Krisensituationen einzustellen (im Fachjargon Resilienz genannt), ein so wichtiges Bildungsziel sein sollte.  

Wichtiger hier sind die Erkenntnisse für die Schule. Die Möglichkeiten der Digitalisierung haben den Wert gemeinsamer Präsenz deutlich gemacht. Wir als Lehrpersonen müssen uns fragen, ob wir die Tatsache, dass Menschen im gleichen Raum sind, immer optimal nutzen. Was lässt sich nicht ohne Präsenz machen und was lässt sich online vielleicht schneller und besser bewerkstelligen. – Manchmal ist es gut, das Schulzimmer zu verlassen – nicht nur weil an der frischen Luft die Ansteckungsgefahr geringer ist. Dehnt man als Lehrperson den Radius aus – auf die Gänge, die gedeckten Aussenbereiche, die nähere oder fernere Umgebung der Schule –,  so entstehen mit den Orts- auch Rhythmuswechsel und neue Lernsituationen. Warum nicht auch nach Corona dieses Rausgehen vermehrt zum Programm zu machen, wo es geht? – Die psychische Gesundheit der Schülerinnen und Schüler rückte mit zunehmender Dauer der Pandemie ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Mehr als vor der Krise ist dem System Schule klar geworden, dass wir das «Funktionieren» nicht einfach für gegeben erachten sollten. Wir haben es mit Menschen, mit Individuen zu tun, die aufgrund ihrer Geschichte die Anforderungen des Unterrichts nicht immer gleich geschmeidig erfüllen können – auch nicht im sogenannten Normalbetrieb, eine Einsicht, die im Übrigen auch für Lehrpersonen gilt. 

Und was haben wir als Gesellschaft lernen können? Wiederum drei Punkte seien herausgegriffen, jeder mit einem besonderem Bezug zur Schule. Wir haben Forschung in Echtzeit miterlebt: Zuerst ging es um die Bestimmung des Virus, später um die Impfstoffe, um epidemiologische Kenngrössen und das Denken in Modellen. Jene, die ein zu einfaches oder naives Bild von Wissenschaftlichkeit gehabt hatten, konnten lernen, dass es ein langer Prozess ist, bis sich die Ergebnisse der Forschung als Lehrbuchwissen niederschlagen. Die scientific community funktioniert, je näher man ihr Ringen um die richtigen Fragen und die richtigen Schlüsse beobachten kann, erstaunlich kontrovers. Daraus Wissenschaftsskepsis abzuleiten ist aber gerade verkehrt, man konnte im Gegenteil Vertrauen aufbauen, ein Vertrauen, das für das Gymnasium zentral ist. – Warum das Bildungsziel der sog. «vertieften Gesellschaftsreife» wichtig ist, konnte fast täglich beobachtet werden. Da ging es um die differenzierte Interpretation von politisch relevanten Statistiken, um das Durchschauen von Verschwörungstheorien, um den würdigen Umgang mit abweichenden Positionen, um gute und weniger gute Kommunikation… alles Dinge, auf die unser Unterricht noch konsequenter ausgerichtet werden sollte. – Und schliesslich wurde die Bedeutung von Berufen klar, die nicht auf dem vermeintlichen Königsweg des Gymnasiums erlernt werden. Die Einsicht, was mehr und was weniger «systemrelevant» ist, sollte die Gymnasien zu mehr Bescheidenheit führen – nicht nur die Lehrpersonen, sondern auch die Schülerinnen und Schüler und die Eltern. Die Vermittlung von breiter Solidarität, wie sie vor allem in der ersten Phase der Pandemie deutlich wurde, sollte auch unsere Schulkultur bestimmen. Eine Gesellschaft ist mehr als eine Ansammlung von Spielcasinos, wo jeder seines Glückes eigener Schmied ist.

Jürg Berthold 

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