Wer Queen’s Gambit gesehen hat, erinnert sich an das Ende. Elisabeth Harmon hat an einem wichtigen Schachturnier in Moskau eben gegen ihren Gegner Vasily Borgov gewonnen. Auf diesen Höhepunkt hin ist die Mini-Serie angelegt. Auf dem Weg zum Flughafen lässt Harmon überraschend das Auto anhalten, steigt aus und begibt sich in einen Park. Dort sitzen ältere Stadtbewohner zusammen und spielen Schach. Als sie Harmon erkennen, applaudieren sie, und einer lädt sie auf eine Partie ein.
Diese Szene kam mir in den Sinn, als ich neulich wieder einmal einem Gespräch über das Leseverhalten von Jugendlichen beiwohnte. Der Tenor solcher Diskussionen ist bekannt: Die Jungen lesen kaum noch, können es immer weniger gut und haben das Interesse an Büchern verloren. Man belegt das mit anekdotischen Erzählungen aus dem eigenen Umfeld oder mit Zahlen. Um persönlich Erlebnisse und Zahlen soll es hier aber nicht gehen, sondern um die Szene im Park.
Queen’s Gambit spielt mitten im Kalten Krieg. Während der ganzen Serie geht es darum, dass es westliche Spieler kaum je schaffen würden, sowjetische Grossmeister zu schlagen. Frauen schon gar nicht. Warum das ist, wird in einer früheren Szene erklärt: Im Westen sei das Spiel nicht in der Gesellschaft verankert, in der Sowjetunion hingegen würden alle spielen. Die Schlussszene nimmt diese Bemerkung auf. Indem Harmon den Schachspieler:innen im Park die Ehre erweist, wird diese Feststellung herausgestrichen. Auf die Diskussion um das Lesen bezogen heisst das: Statt das Leseverhalten der Jugendlichen zu kritisieren, muss man über die Frage sprechen, warum man so wenig lesende Menschen in der Öffentlichkeit sieht. Man stelle sich ein Zugsabteil oder ein Tram mit lauter lesenden Menschen vor. Strassencafés, Plätze, Parks… wohin man schaut Menschen, die in Bücher vertieft sind. Nicht nur Einzelne, sondern in grosser Zahl. Man stelle sich Tischgespräche vor, in denen es statt um Feriendestinationen, Fitness, Autos, Mode und Kochrezepte um Bücher ginge. In denen Lesetipps ausgetauscht und Lektüreerfahrungen verglichen würden. In denen über Inhalte diskutiert, über Urteile gestritten würde. Nicht ausnahmsweise einmal, sondern häufig – weil sich alle über das Gelesene austauschen möchte. Woran würden sich Jugendliche, die in einer solche Gesellschaft gross werden, orientieren? Welche Schlüsse würden sie ziehen aus der Beobachtung, von lesenden Menschen umgeben zu sein? Welche Vorbilder würden in einer solchen Erwachsenenwelt zählen?
Mag sein, dass der eine oder die andere Erwachsene in einer solchen Welt nicht leben möchte. Weil man andere Prioritäten hat. Weil einen Bücher letztlich egal sind und einem andere Dinge mehr sagen. Eine solche Person sollte sich dann aber nicht über Jugendliche äussern, die nicht lesen. Sie sollte die Aufgabe, Schüler:innen zum Lesen bringen, auch nicht an die Schule delegieren. Die Bemühungen der Schule fruchten nämlich dort am meisten, wo sich ihre Ziele mit einer etablierten gesellschaftlichen Praxis verschränken. Wo die Werte der Schule mit jenen der Gesellschaft übereinstimmen.
An der KUE wird Schach übrigens seit einigen Jahren als Freifach angeboten. Und es gibt einen Literaturclub. Das nächste Mal, am 18. September, wird über Nora Krugs Graphic Novel Heimat diskutiert. Für beides kann man sich in den nächsten Tagen anmelden.
Jürg Berthold
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