Menschen mit Offenheit begegnen. Bedingungslos?

Was Schüler:innen der KUE zur Frage meinen, ob wir Menschen stets mit Offenheit begegnen sollten. Und warum die Antwort nur scheinbar einfach ist. Mehr dazu im aktuellen Wochenbrief.

«Open minded» (Foto Adobe iStock)

Manche Kontakte bleiben über das Ende der Schulzeit hinaus bestehen. Mit einzelnen ehemaligen Schüler:innen tausche ich mich auch Jahre nach ihrem Schulabschluss noch regelmässig aus. Diese Gespräche schätze ich sehr. Es interessiert mich zu erfahren, wie sich das Leben nach der Matura für junge Menschen anfühlt. Bei unseren Treffen geht es unter anderem auch um die gemeinsam erlebte Zeit. Neulich war dies wieder der Fall. «Du bist uns immer mit grosser Offenheit und mit ehrlichem Interesse an unserer Situation begegnet.» So beschrieb mich einer meiner ehemaligen Schüler. Diese Aussage hat mich einerseits gefreut und andererseits zum Weiterdenken angeregt.

Im Schulalltag – wie überhaupt im Leben – treffen wir mit so vielen verschiedenen Menschen zusammen. Ich möchte allen gegenüber offen sein. Es bedeutet für mich, einen Menschen so anzunehmen, wie er ist, ihn nicht in seiner Persönlichkeit zu hinterfragen oder zu bewerten.

Aber dann kam ein weiterer Gedanke auf: Sollen wir wirklich allen Personen und ihren Ansichten offen begegnen? Bedingungslos? Ich erinnerte mich an schwierige Situationen: Wenn Schüler:innen sich diskriminierend gegenüber anderen geäussert hatten. Wenn Lehrpersonen herablassende Kommentare fallen liessen. Hatte ich die Frage anfangs reflexartig mit Ja beantwortet, fiel es mir bei genauerer Betrachtung nicht mehr so leicht.

Alleine kam ich in dieser Frage nicht weiter, also entschied ich mich für das Naheliegende: Ich fragte meine Schüler:innen. Wir setzten uns zusammen und dachten gemeinsam nach.

Was bedeutet Offenheit? Leah ist der Meinung, dass sich Offenheit in der bedingungslosen Akzeptanz von anderen Menschen äussert. Dabei geht es ihr nicht nur um die Persönlichkeit von Individuen, sondern auch um die Akzeptanz von Gruppen und Systemen. Ausserdem sollten wir die Kommunikation mit anderen nicht einschränken, denn Offenheit zeigt sich laut Gavriel in der «Minimierung der Beschränkung sozialer Interaktion.» Schränken wir im sozialen Kontext unseren Kontakt zu einer Person ein, zum Beispiel aufgrund eines Vorurteils, so sind wir nicht mehr offen für ihre Ansichten. Wir alle haben Vorurteile, bewusst oder unbewusst, und viele Menschen glauben, dass es besser ist, sie zu ignorieren. In unserem Gespräch kommen wir jedoch zum Schluss, dass sich alle ihrer Vorurteile bewusst werden, diese aktiv wahrnehmen und überwinden sollten. Offenheit bedeutet auch Kampf für die uneingeschränkte Meinungsfreiheit, sagt Gavriel. Es sei denn, es wird zu Gewalt aufgerufen.

Das führt uns zur nächsten Frage: Gibt es eine Grenze? Jede Form von Gewalt ist inakzeptabel, sie ist schlecht für die Harmonie in einer Gesellschaft – oder in einer Schule. Genauso wenig darf Diskriminierung toleriert werden, da sind wir uns einig. Toleranz endet dort, wo Intoleranz anfängt. Gavriel hält fest: «Alle Meinungen müssen toleriert werden, ausser denen, die nicht tolerant sind.» Ein Widerspruch? Nur scheinbar, da Offenheit nicht Verständnis bedeuten muss. Ich kann versuchen, andere Meinungen zu verstehen, aber es ändert nichts am Grad meiner Offenheit, wenn ich die andere Seite nicht verstehen kann.

Gibt es einen Unterschied zwischen Theorie und Praxis, zwischen Ideal und Realität? Sowohl in der Gesellschaft als auch in der Schule verfolgen wir ein gemeinsames Ziel. Bedingungslose Offenheit und gegenseitige Toleranz wären der beste Weg. Doch die Praxis sieht oft anders aus. Lehrpersonen reagieren teils ablehnend gegenüber Meinungen von Schüler:innen, wenn diese nicht in ihr Weltbild passen. Auch die Ressourcen sind limitiert: Unerwünschtes Verhalten gefährdet das Ziel der Schule, Diskussionen können aus Zeitgründen nicht zu Ende geführt und Kompromisse nicht immer gefunden werden. «Durch Social Media wird die Bildung von Bubbles noch verstärkt», stellt Leah fest. Es wird schwieriger, zu anderen durchzudringen. Sie werfen uns nur auf uns selbst zurück und verhindern die Auseinandersetzung mit verschiedenen, auch unbequemen Meinungen.

Und unser Fazit? Verlassen wir die Komfortzone unserer verheissungsvoll schillernden Bubble! Bleiben wir im Gespräch, bedingungslos offen – und bleiben wir in Kontakt! Auch über die Schulzeit hinaus.

Aniko Gassmann mit Leah* und Gavriel

*Der Name wurde geändert.

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