«Hast du sie schon mal Cello spielen gehört?» Dieser Satz fiel an einer meiner ersten Notenkonferenzen vor etwa 35 Jahren. Wir besprachen die Leistungen einer Schülerin, welche vor allem in Physik eine sehr tiefe Note hatte. Der Lehrer empörte sich. Jemand, der derart wenig in seinem Fach verstehe, habe an einem Gymnasium nichts verloren, sagte er apodiktisch.
Die Antwort des Rektors habe ich nie vergessen: «Hast du sie schon mal Cello spielen gehört?»
Wer ans Gymi gehört und wer nicht, wird im Kanton Zürich immer wieder intensiv diskutiert. In der Bildungsbeilage der NZZ vom 24.11.21 wiederholte die ETH-Professorin Stern einmal mehr, was sie seit Jahren mantramässig wiederholt: Viele Gymnasiast:innen seien eigentlich nicht intelligent genug für eine Matura. «30%, konservativ geschätzt», meint sie.
Abgesehen davon, dass mich diese Abwertung eines grossen Teils unserer Schülerinnen und Schüler ärgert, finde ich die Bemerkung auch inhaltlich fragwürdig. Frau Stern geht offenbar davon aus, dass das Gymnasium nur für diejenigen reserviert ist, welche in IQ-Tests Spitzenleistungen erreichen, z.B. die 20% Besten eines Jahrgangs
Ob diese Setzung richtig ist, wäre aber zu diskutieren. Ich freue mich über intelligente Menschen, die in Berufen arbeiten, welche man nicht über eine gymnasiale Matur erreicht. Wenn ich beispielsweise unsere KUE-Haustechnik anschaue, bin ich froh, dass wir für diese hoch anspruchsvollen Aufgaben sehr intelligente Leute haben.
Interessant ist, wie Frau Stern Intelligenz definiert: «Geistige Flexibilität, schlussfolgerndes Denken, sich auf ein Ziel konzentrieren können. Irrelevante Informationen ausblenden, relevante aktivieren.»
Die schlechte Physiknote der eingangs erwähnten Cellistin liesse sich aber kaum auf kognitive Defizite zurückführen. An der Fähigkeit zu schlussfolgerndem Denken – um nur einen Teilbereich zu nennen – mangelte es der Schülerin nicht. Möglicherweise hatten die Physik-Prüfungen diese Kompetenz gar nicht abgefragt oder die Schülerin hatte bewusst auf andere Fächer gesetzt, um dort zu guten Noten zu kommen. Der Rektor erinnerte mit seiner Frage daran, dass die gymnasiale Bildung mehrere Dimensionen hat.
Der Hinweis auf die cellistische Begabung der Schülerin ist mir aber auch geblieben, weil ich vermute, es gebe so etwas wie «musikalisches Denken». Gerne führe ich in einem späteren Wochenbrief mehr dazu aus, weil nämlich diese Form von Intelligenz an einer Mittelschule eine Rolle spielen darf, selbst wenn sich IQ-Tests vielleicht nicht dafür interessieren.
Die erwähnte Schülerin legte übrigens die Maturitätsprüfungen erfolgreich ab und ist heute Musikerin.
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