«Ich bevorzuge die Kombination von normalen Prüfungen und mündlichen Projekten. Ich mag persönlich das Format der Mündlichnote nicht so.» Diese Rückmeldung eines Schülers auf die Frage nach bevorzugten Leistungsnachweisen spiegelt ein weit verbreitetes Empfinden vieler Jugendlicher wider. Oft äussern Schülerinnen und Schüler Vorbehalte gegenüber den sogenannten Mündlichnoten. Sie empfinden diese Form der Bewertung als weniger objektiv und schwerer nachvollziehbar – vor allem wenn es sich nicht um Bewertungen von einzelnen konkreten Leistungen, sondern um eine summarische Gesamteinschätzung übers ganze Semester handelt. Hinzu kommt, dass nicht wenige Jugendliche Unsicherheit oder sogar Angst verspüren, wenn sie vor der Klasse sprechen sollen.
Solche Einwände begleiten die mündliche Leistungsmessung im Schulkontext schon lange. Mündliche Beiträge – ob spontane Wortmeldungen, Diskussionen oder kurze Abfragen – galten vielfach als «flüchtig» und «subjektiv», kaum greifbar oder vergleichbar. Demgegenüber erschienen schriftliche Leistungen als strukturierter, dokumentierbarer und objektiver – insgesamt als verlässlichere Basis für die Leistungsbewertung.
Doch diese scheinbare Gewissheit gerät aktuell ins Wanken. Die rasante Entwicklung von künstlicher Intelligenz verändert nicht nur Lernprozesse, sondern auch die Art, wie Wissen reproduziert, geprüft und bewertet wird. Wenn KI binnen Sekunden ganze Aufsätze schreibt oder sogar komplexe Projektaufträge wie einen Businessplan verfasst, verliert die schriftliche Einzelleistung an Aussagekraft.
Genau hier beginnen die Stärken der Mündlichkeit sichtbar zu werden. Denn während KI viele Aufgaben inzwischen schneller, präziser und effizienter erledigt als der Mensch, bleibt ein Bereich davon (noch) weitgehend unberührt: die authentische menschliche Kommunikation.
Stefan Hofer und Rémy Kauffmann beschreiben in ihrem Buch «Neue Mündlichkeit – Kommunikation und KI im Unterricht» (2025) diesen Wandel. Sie plädieren dafür, die Schule als Ort des Dialogs, der Reflexion und des gemeinsamen Denkens neu zu begreifen.
Das Konzept der neuen Mündlichkeit setzt genau hier an: Es eröffnet Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, sich über einen längeren Zeitraum hinweg regelmässig mit kurzen, eigenständigen mündlichen Beiträgen am Unterricht zu beteiligen – über das klassische Lehrgespräch hinaus.
Die Autoren stellen dazu eine Vielzahl an niedrigschwelligen, aber gehaltvollen Formaten vor. Beim Format «Mein Votum zum Einstieg» setzen sich die Lernenden beispielsweise mit einem neuen Diskussionsthema auseinander und formulieren ihre Position in einem kurzen Audiobeitrag. Die Vielfalt der Perspektiven bildet dann den Auftakt für eine gemeinsame Diskussion im Plenum. Ein anderes Beispiel: Das gezielte Feedback wird als wiederkehrende Aufgabe geübt – differenziert, konkret und wertschätzend. Auch hier zeigt sich: Mündlichkeit ist mehr als Sprechen – sie ist dialogisches Handeln. Unsere Kollegin und Expertin für neue Mündlichkeit, Isa Grevener, hat ebenfalls ein Beispiel beigesteuert: den Character Rap. Im Englischunterricht analysieren die Lernenden eine Romanfigur und erstellen dazu einen Zehnzeilen-Rap, den sie auch vortragen. Dabei nutzen sie KI-Tools reflektiert und passen die Ergebnisse an ihre Zielsetzung an. Die entstandenen Raps dienen als Diskussionsgrundlage im Unterricht. Dieses Format verbindet Textanalyse, Gruppenarbeit und Performance – und fördert so mündliche Ausdrucksfähigkeit und Selbstvertrauen gleichermassen.
Im Laufe des Semesters entstehen auf diese Weise zahlreiche kurze Beiträge in unterschiedlichen Sprechsituationen – mal argumentierend, mal erklärend, mal zusammenfassend oder erzählend. Die Aufgaben sind überschaubar, die Beiträge knapp, aber in ihrer Gesamtheit aussagekräftig. Sie werden im Unterricht genutzt, besprochen, mit Feedback versehen und in die Leistungsbeurteilung integriert.
Was die Angst der Schülerinnen und Schüler betrifft, vor der Klasse zu sprechen, so wird sie durch die neue Mündlichkeit nicht einfach aufgehoben – aber sie wird ernst genommen. Denn hier geht es nicht mehr nur um spontane Beiträge unter Druck, sondern um klar strukturierte, vorbereitete Sprechsituationen mit gezieltem Auftrag. Die Häufigkeit der kurzen, wiederkehrenden Aufgaben schafft Übung, Routine und damit Sicherheit. Dies ist auch vor dem Hintergrund wichtig, dass aufgrund von KI die Bedeutung mündlicher Leistungen (Prüfungen, Vorträge etc.) auch an Universitäten steigen wird.
Karin Hunkeler
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