Orientierung in einer labyrinthischen Welt

Darf ein 14jähriges Mädchen heiraten? – Beantworten Sie für sich die Frage, bevor Sie den Wochenbrief dazu lesen.

«Darf ein 14jähriges Mädchen heiraten?» So lautete eine der Fragen, mit denen der Psychologe Paul Baltes (1939-2006) herauszufinden versuchte, wie stark sich Menschen unterschiedlichen Alters in ihren Urteilen von Prinzipien leiten lassen. Sich an Grundsätzen zu orientieren wird in der Regel als positiv angesehen, Prinzipientreue ist eine Tugend. Nicht so im Kontext dieser Untersuchung: Es könnte ja sein, dass man damit die spezifischen Umstände des Einzelfalles verfehlt. «Weise» ist gemäss Baltes’ Forschungen, wer zögert und nachfragt, bevor er oder sie antwortet. Der Altersforscher war dem Phänomen der Weisheit auf der Spur und eine seiner Erkenntnisse war: Mit zunehmendem Alter haben wir öfters die Erfahrung gemacht, dass uns Prinzipien falsch entscheiden liessen. Das bringt nicht alle, aber einige dazu, zurückhaltender im Urteilen, weiser zu werden.

Mit Gedanken rund um das Thema «Weisheit» hat sich ein Teil des KUE-Teams am Freitag der letzten Ferienwoche beschäftigt. Im Rahmen der sogenannten Rentrée, wo man sich im lockeren Rahmen nach einem Inputreferat trifft, bevor die Schule am Montag beginnt, hielt Michael Hampe, Professor für Philosophie an der ETH Zürich, einen Vortrag. Anlass war sein Forschungsprojekt Metis, das auch für die Schulen interessant ist. In allen Kulturen, auch in den Weltreligionen, gibt es Hinweise, dass es für die Orientierung in einer komplexen Welt mehr braucht als abstrakte Gesetze. «Weisheit» ist für Hampe und sein Team ein Oberbegriff für all diese Hinweise; der Ausdruck ist offener als der griechische Begriff «Philosophie» und nicht von vornherein westlich-abendländisch besetzt.

Eine weise Person ist sich bewusst, dass sie die Lage (noch) nicht durchschaut; sie fragt nach und holt mehr Informationen ein, bevor sie urteilt. Das ist der Sinn von Sokrates’ berühmtem «Ich weiss, dass ich nichts weiss». Es geht dabei nicht um eine generelle Skepsis, sondern um Bescheidenheit und Zurückhaltung.

Wer weise ist, versucht auch nicht, alles zu kontrollieren. Die Idee der Kontrolle ist geistig nämlich verwandt mit jener der Prinzipientreue: Die klaren Grundsätze, auch die naturgesetzlichen Regeln, beförderten den Erfolg einer technischen Beherrschung unserer Welt. Weise ist es in diesem Sinne, Dinge manchmal auch akzeptieren zu können. Wer eine Krebsdiagnose erhält und vor der Wahl unterschiedlicher Therapien steht, wird die persönliche Entscheidung für einen bestimmten Weg nicht mit einer fixen Regel finden können. Deshalb fühlen sich Ratschläge oft so hilflos an. Vielleicht braucht es am Ende auch die Gelassenheit, weitere Eingriffe, um die Erkrankung unter Kontrolle zu bekommen, zu unterlassen und den Verlauf zu akzeptieren. Weise ist, wer eine Balance zwischen Kontrollieren und Akzeptieren findet.

Drei Einsichten habe ich mir für die Schule gemerkt: Erstens, es ist zentral, neben dem Wissen jeweils auch die Voraussetzungen und Grenzen des Wissens aufzuzeigen. Es geht darum, eine Kultur der Neugier und des Nachfragens zu pflegen. Das gilt nicht nur für die einzelnen Unterrichtsthemen, sondern auch für die Beurteilung von Schülerleistungen. Zweitens haben Einschätzungen, die wir nicht durch eine allgemeine Regel begründen können und die man «intuitiv» nennen könnte, eine wichtige Funktion. «Ungute Gefühle» etwa motivieren uns, die Komplexität einer Situation genauer zu erfassen, und lassen uns im Entscheiden innehalten.

Die dritte Einsicht ist für mich am schwierigsten: Wie findet man eine Balance zwischen der Notwendigkeit, zu steuern und zu kontrollieren, und der Einsicht, dass sich nicht alles kontrollieren lässt? Wie lassen sich «Techniken der Akzeptanz», von denen Hampe gesprochen hat, ausbilden? Wie sie lehren? Wie den Unterschied zwischen Akzeptieren und Resignieren klar machen? In einem Gespräch im Anschluss an die Veranstaltung ging es um die Anwendung dieses Unterschieds auf die Herausforderungen des Klimawandels: Resignation ist keine Lösung. Und es ist nicht weise, allein auf technologische Lösungen zu hoffen. Eine Haltung der Akzeptanz auszubilden hiesse, die Lage anzuerkennen und unsere Lebensgewohnheiten entsprechend radikal zu ändern.

Zurück zum Heiratswunsch: Angenommen, die junge Frau leidet an einer tödlichen Krebserkrankung. Wessen Nein würde da nicht ins Wanken kommen?

Jürg Berthold

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