Pioniere

Im aktuellen Wochenbrief schreibt Moritz Rövekamp, Biologie, über Pioniere und andere Lebewesen.

Geschichten über Entdecker, Künstler, Helden und Pioniere sind wohl schon seit dem ersten Zusammenrücken am Lagerfeuer Bestandteil der menschlichen Kultur. Inspiriert von "Sternstunden der Menschheit", wollte auch ich einen solchen Text schreiben. Doch sind in dem Buch die allermeisten dargestellten Personen europäische Männer. Eine stark eingeschränkte Sichtweise der sogenannten "Menschheit". Aus Sicht der biologischen Vielfalt auf unserem Planeten, ist schon die Beschränkung auf die Menschheit eine radikale Einengung des Blickwinkels. Die wahren Pioniere dieser Erde sind nicht wir Menschen. Wir sind normalerweise die Nachzügler, die sich ins gemachte Nest setzen, nachdem andere den Weg bereitet haben. Die grössten Pioniere dieser Welt, mindestens zu Land, sind die Pflanzen.

Meistens nehmen wir Pflanzen nicht als besonders dynamische Lebewesen war. Wir sind uns sicher, dass ihre Welt still ist. Pflanzen sind unbeweglich, sesshaft, an ihrem Standort verwurzelt und haben folglich schon immer an dem Ort bestanden, an dem wir sie heute antreffen. Doch Pflanzen benutzen eine grundlegend andere Taktik und Zeitskala als wir. Ihre Kommunikation findet, für uns unsichtbar, über unterirdische Netzwerke und Duftstoffe im Wind statt. Ihre Eroberung eines neuen Territoriums findet nicht innerhalb einer Generation statt. Doch ihre Abkömmlinge, Samen in jeder denkbaren Gestalt und Ausstattung, erreichen selbst die entferntesten, unzugänglichsten Winkel dieser Welt. Sie sind es, die dort als erstes Wurzeln schlagen. Andere Lebewesen können sich meist erst dann niederlassen, wenn Pflanzen die Grundlage für eine weitere Besiedlung gelegt haben.

Das ist nicht nur Theorie: 1963 begann etwa 100 Kilometer südlich von Island das Meer zu brodeln und Schwefeldämpfe erfüllten die Luft. Vulkane tief unter der Meeresoberfläche erschufen bis 1967 eine komplett neue Insel aus Magma, Asche, Bimsstein und Sand. Bereits zwei Jahre vor der letzten Eruption wurde die Insel zum Naturschutzgebiet ernannt und wird bis heute nur von Wissenschaftlern betreten. Ihr Name ist Surtsey (nach "Surt", einer nordischen Sagengestalt mit flammenden Schwert) und sie stellt ein Echtzeit-Experiment zur Besiedlung eines komplett unbewohnten Stück Lands dar. Bereits 1965, also noch bevor die Vulkanausbrüche versiegten, siedelte sich ihr erster permanenter Bewohner an: Meersenf (Cakile arctica) ist ein pflanzlicher Pionier, der ohne Süsswasser auskommt. Seine Samen sind kühne Seefahrer und verbreiten sich mit den Meeresströmungen. Seit seiner Ankunft haben sich zahlreiche Moose (1967), Gräser (1967) und andere küstenbewohnenden Pflanzenarten angesiedelt. Seit 1998 steht der erste Baum (eine Weidenart) auf Surtsey. Auf dieser Grundlage haben sich nach und nach auch permanente Kolonien von Tierarten wie Vögeln (1970), Insekten (1981), Würmern (1993) und Schnecken (1998) auf der Insel breit gemacht. Bis heute kommen jährlich mehrere biologische Arten dazu; die Kolonialisierung von Surtsey ist nach wie vor im Gange.

Sind also invasive Arten von heute, die Einheimischen von morgen? Niemand würde heute beispielsweise die Tomate aus der traditionellen italienischen Küche wegdenken. Doch die Tomate stammt ursprünglich aus Süd- und Mittelamerika und kam erst Mitte des 16. Jahrhunderts nach Italien. Damals war ihre Frucht noch gelb, was auch auch ihr italienischer Name bezeugt: "Pomo d'oro" (Apfel aus Gold). Erst als 1572 eine rote Sorte gezüchtet wurde, begann man sie überhaupt zu essen, davor war sie nur Zierfrucht. (Das erste Rezept für Pasta mit Tomatensauce gab es trotzdem erst im 19. Jahrhundert.)

Man kann natürlich diskutieren, ob der freie Wille zur Sache einen echten Pionier ausmacht. Doch auch die meist-besungenen menschlichen Pioniere und Entdecker waren nicht immer aus freien Stücken in ihrer jeweiligen Situation. Manchmal verschlägt das Leben einen, wie einen Pflanzensamen, einfach ungewollt an neue Ufer. Sei das auf die Insel Surtsey, in das unbekannte Umfeld einer neuen Schule oder mitten in eine globale Pandemie, wo kaum jemand mehr auf Vertrautes zurückgreifen kann. So sind wir alle auch selber immer wieder Pioniere. Jeder in seinem Leben und wir alle gemeinsam.