Play it again, play it differently!

«Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne» heisst die berühmte Verszeile. Gedanken zum Semesterbeginn im neuen Wochenbrief.

Wer würde den Reiz des Anfangens nicht kennen, den Zauber, von dem Hermann Hesses Vers spricht? Man macht etwas zum allerersten Mal und der Start ist ein wirklicher Anfang. Oder man setzt wieder an: Die Karten im Spiel werden neu gemischt, und man hofft auf ein besseres Blatt. Auf in die nächste Runde! Immer hat das Anfangen einen verheissungsvollen Glanz. Er verspricht etwas, was man oft gar nicht genau benennen kann. Nicht selten ist diese unbestimmte Vorfreude begleitet vom Gefühl der Angst.

Zum Semesterbeginn finden viele Anfänge statt, kleinere und grössere, wahrscheinlich in jedem Fach. Vielleicht bringt die Deutschlehrerin ein neues Buch mit und man liest zusammen die erste Seite; man lernt eine literarische Figur kennen, hört einen neuen sprachlichen Ton, begegnet einem bisher unbekannten Stil. Oder im Mathematikunterricht wird in das nächste Kapitel eingeführt, und plötzlich versteht man wieder, wovon die Rede ist. In einem anderen Fach stehen vielleicht Fragen am Anfang oder eine Problemstellung, die an ein neues Thema heranführen sollen. Plötzlich hat man eine Ahnung, dass das spannend werden könnte. Vielleicht kommt auch ein neuer Schüler in die Klasse oder man hat eine neue Lehrerin. Vielleicht sogar gar ein Fach, das man bis anhin noch nicht hatte. Oft ist der Neuanfang auch banaler und hat weniger mit den Inhalten oder mit Menschen zu tun: Die Noten des vergangenen Semesters sind alle gelöscht, die Zählung kann wieder bei null beginnt. Jetzt nur von Anfang an aufpassen und dranbleiben, dann muss ich später nicht frühere Versäumnisse mühsam wieder aufarbeiten. Wer hätte nicht auch schon diesen oder einen ähnlichen Vorsatz gefasst? Auch das hat mit dem Neu-anfangen-können zu tun.

Der Mensch, so lautet sinngemäss eine Bestimmung des Philosophen Immanuel Kant, ist das Wesen, das immer wieder einen Anfang machen kann, und er nennt diese Eigenschaft «Spontaneität». Das hat wenig mit unserem umgangssprachlichen Begriff zu tun. Kant meint damit, dass wir frei sind, dass unsere Handlungen also nicht nach einem starren Muster ablaufen müssen. Die Pointe: Wenn wir anfangen können, können wir immer auch anders anfangen, einen Neuanfang machen. Hannah Arendt, eine Philosophin, die fast 200 Jahre nach Kant lebte, hat in diesem Zusammenhang von «Natalität» gesprochen, von «Geburtlichkeit». Wir sind fähig, uns neu auf die Zukunft hin zu erfinden, gewissermassen neu zu gebären, einen Anfang zu machen, etwas in Gang zu bringen, indem wir (anders) handeln.

Dass es mit dem Anfangen nicht immer einfach ist, besagt das Sprichwort «Aller Anfang ist schwer!» Ermutigend fand ich deshalb immer den auf den ersten Blick vielleicht frustrierenden Satz von Samuel Beckett: «Try again! Fail again! Fail better.» Das berühmte Zitat macht deutlich, dass es auch Fortschritte in der Art unseres Scheiterns gibt. Auch sind wir nicht immer so frei, wie wir gerne hätten; deshalb kann das mit den guten Vorsätzen recht ernüchternd sein und wir fallen schnell wieder in alte Muster zurück. Auch das kennen wir alle nur zu gut.

Mit diesen Gedanken zum Anfangen wünsche ich allen zum Semesterbeginn möglichst viele bezaubernde Anfänge aller Art. Den Schüler:innen wünsche ich die Freiheit, Neuanfänge zu wagen und sich nicht entmutigen zu lassen. Und uns Lehrpersonen wünsche ich das pädagogisch-didaktische Geschick, dem Anfang Glanz zu verleihen, den Schwung des Neustarts ausnützen und etwas vom Zauber des Beginnens spürbar zu machen.

Jürg Berthold

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