Spaltung, Empörung, politische Lager… Darüber reden wir ständig, weshalb uns die Themen Polarisierung und Demokratie der Gesellschaftspolitischen Themenwoche, die letzte Woche stattfand, erst mal vertraut vorkamen. Doch hinter diesen grossen, oft hoffnungslos erscheinenden Problemen versteckt sich etwas Grundlegenderes. Es geht darum, wie jeder von uns überhaupt zu seinen Meinungen kommt, welche manchmal radikal werden und so zur Polarisierung und Kompromisslosigkeit führen können.
Im Modul zur Meinungsbildung bei Frau Schneider, Lehrerin für Wirtschaft und Recht an der KUE, lasen wir einen Auszug von «The daily me» von der Princeton University und den NZZ-Artikel «Warum wir glauben, was wir glauben wollen» (01.05.2021). Wir lernten, wie stark psychologische Mechanismen unser Denken prägen: kognitive Dissonanz, Confirmation Bias, naiver Realismus, der Dunning-Kruger-Effekt, unsere Tendenz, Unangenehmes auszublenden, und die Loyalität zu unserer eigenen «Gruppe». Doch auch wenn wir uns dieser Phänomene bewusst sind, verlieren sie nicht an Wirkung. Die Illusionen des Denkens funktionieren ähnlich wie optische Täuschungen. Hinzu kommt, dass wir unser Wissen oftmals überschätzen. Wer könnte etwa ein detailliertes, realitätsgetreues Fahrrad zeichnen? Viele würden spontan ja sagen, genau wie die Teilnehmenden einer Studie, von welchen jedoch nur 55% eine genaue Abbildung liefern konnten. In einem solchen Alltagsbeispiel wirkt das vielleicht banal, doch in politischen Fragen kann solches Halbwissen fatale Folgen haben. Es ist sogar gefährlicher als Unwissen, denn es führt zu falscher Sicherheit.
Gerade an einem Gymnasium spielt das eine zentrale Rolle. Paradoxerweise zeigt eine Studie der Psychologin Heather A. Buttler nämlich: Je höher der Bildungsgrad, desto stärker neigen Menschen zu extremen Meinungen. Der NZZ-Artikel erklärt dies damit, dass wir unsere eigene Denkfähigkeit nicht dazu nutzen, unsere Meinung in Frage zu stellen, sondern um Gegenargumente zu entkräften. Dies nennt sich Motivated Reasoning und wirft die Frage auf: Wenn Bildung keine Garantie für eine bessere Urteilsfähigkeit ist, macht sie uns dementsprechend nicht automatisch zu besserem Demokraten*innen, sondern vielleicht nur besser darin, unsere bestehenden Meinungen zu verteidigen und uns selbst zu täuschen?
Das wirft weitere Fragen auf: Wenn wir Meinungen wie unsere Identität verteidigen und gegensätzliche Meinungen im Gehirn dieselbe Reaktion wie eine physische Gefahr auslösen, kann man der Polarisierung überhaupt entgegenwirken? Wenn unser Denken so voller Abkürzungen, Verzerrungen, blinder Flecken und Selbsttäuschung ist, wie sinnvoll ist Demokratie überhaupt? Schliesslich beruht dieses System darauf, dass wir urteilsfähig sind, Meinungen und damit auch politische Entscheidungen rational begründen können und in diesen kompromissbereit sind.
Demokratie lebt aber unserer Meinung nach nicht davon, dass jede Meinung perfekt ist, sondern davon, dass wir uns selbst als Lernende verstehen. Dass wir anerkennen, wie begrenzt unsere Perspektive ist und dass unsere Meinung nicht zwingend die Wahrheit oder Realität abbildet. Herr Berthold hat dazu im letzten Wochenbrief einen wichtigen Punkt aufgebracht: Bildung ist ein aktiver Prozess. Niemand kann uns bilden. Wir bilden uns selbst, wenn wir uns wirklich auf Inhalte einlassen, wenn wir bereit sind, unser Weltbild zu erweitern und dementsprechend uns auch mit anderen Ansichten auseinandersetzen.
Polarisierung ist deshalb nicht nur ein gesellschaftliches Thema, sondern eine persönliche Herausforderung. Jede Diskussion, ob im Unterricht, in der Klasse oder zu Hause, bietet die Möglichkeit, die eigenen blinden Flecken zu erkennen. Wir ermutigen euch also dazu, die Schule nicht als Ort anzusehen, der fertige Positionen vermittelt, sondern vielmehr als einen Raum, in dem ihr eure eigenen Meinungen zu entwickeln und vor allem zu hinterfragen lernt.
Sarah Trüeb und Lavinia Hürzeler (beide Klasse 6d)
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