Resilienz als Bildungsziel

Manchmal ist es gut, wenn Dinge an uns abperlen. Warum Resilienz uns als Schule beschäftigen muss, lesen Sie im aktuellen Wochenbrief.

Im «Reglement über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen (Maturitäts-Anerkennungsreglement MAR) aus dem Jahre 1995 – der obersten Vorgabe, die relevant ist für alle Mittelschulen – steht im oft zitierten Artikel 5, was das Bildungsziel der Mittelschule ist. Es lohnt sich nicht nur für Lehrpersonen, sondern auch für Schülerinnen und Schüler und für Eltern diesen Text immer mal wieder zu lesen und die Schulrealitäten daran zu messen. Vieles wirkt in meinen Augen immer noch erstaunlich frisch, stellenweise sogar weitsichtig. Beeindruckend ist die Fülle der angesprochenen Aspekte: Da ist von lebenslangem Lernen die Rede, von persönlicher Reife, von Sensibilität in ethischen und musischen Belangen. Aber auch von Willenskraft, den physischen Fähigkeiten oder der Aufgabe, sich in der natürlichen, technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umwelt zurechtzufinden. Heute, da oft andere Aspekte betont werden, ist es hervorzuheben, dass es heisst: «Die Schulen streben eine breit gefächerte, ausgewogene und kohärente Bildung an, nicht aber eine fachspezifische oder berufliche Ausbildung.» Die Definition der sog. Hochschulreife ist weit gefasst und nicht auf Stoffwissen eingeengt: «Die Schülerinnen und Schüler gelangen zu jener persönlichen Reife, die Voraussetzung für ein Hochschulstudium ist und die sie auf anspruchsvolle Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet.»

Reicht das so gefasste Bildungsziel, damit sie vorbereitet sind auf Situationen, von denen jetzt noch niemand weiss, wie sie aussehen und was sie ihnen abverlangen werden? Was muss die Schule vermitteln, damit Mensch heranreifen, die Krisen wie jene, die wir erlebt haben und die noch nicht ausgestanden ist, gut überstehen? Im Zentrum muss die Fähigkeit stehen, sich in einer Welt, die in einem bisher unbekannten Mass Veränderungen unterworfen ist, zurechtzufinden, lautet die Antwort des israelischen Intellektuellen Yuval Noah Harari, und er verbindet dies mit dem aus der Psychologie seit den 1950er-Jahren bekannten Begriff der «Resilienz». In seinem Buch «21 Lektionen für das 21. Jahrhundert» (2018) schreibt er: «Wer in einer solchen Welt überleben und gedeihen will, braucht eine Menge an geistiger Flexibilität und grosse Reserven an emotionaler Ausgeglichenheit. Man wird sich immer wieder von einigen Dingen, die man wie aus dem Effeff beherrscht, verabschieden müssen und mit dem Unbekannten anfreunden müssen.» Die Schule, wie sie im Moment organisiert ist, bereitet darauf – so Hararis Fazit – zu wenig vor. Und das liegt auch daran, dass das gar nicht so leicht ist: «Leider ist es viel schwerer, Kindern beizubringen, wie man das Unbekannte akzeptiert und das seelische Gleichgewicht behält, als ihnen eine physikalische Gleichung oder die Ursache des Ersten Weltkriegs zu erklären. Resilienz lässt sich nicht lernen, indem man ein Buch liest oder einem Vortrag lauscht», lautet seine pessimistische Einschätzung und er verbindet das mit einer kritischen Bemerkung zu uns Lehrpersonen: «Den Lehrern selbst fehlt in der Regel die geistige Flexibilität, die das 21. Jahrhundert verlangt, denn sie sind das Produkt des alten Bildungssystems.»

Wenn man die Rückmeldungen zu den letzten zehn ausserordentlichen Wochen liest, muss man dieses generelle Urteil relativieren: Es gab eine grosse Zahl von Schülerinnen und Schülern, die sich sehr gut zurechtgefunden haben, und viele Lehrpersonen arbeiteten auch unter den besonderen Bedingungen sehr engagiert. Hararis grundsätzlicher Befund müssen wir aber doch zur Kenntnis nehmen und uns fragen: Wie können wir junge Menschen auf eine Welt vorbereiten, in der riesige Veränderung die einzige Konstante sein werden? Sind die Schwerpunkt, die wir traditionellerweise setzen, richtig? Wie könnte ein anderer Fokus aussehen? Sind wir Erwachsenen auf der Höhe dieser Herausforderungen? Sicher ist: Das schon im Bildungsartikel von 1995 erwähnte «lebenslange Lernen» greift zu kurz und verharmlost die Lage. Es wird uns – auch an der KUE – noch länger beschäftigen, was wir aus den Erfahrungen der Corona-Zeit nicht nur im Hinblick auf das Verständnis von Unterricht mit digitalen Medien, sondern auch für die von Harari angesprochenen Herausforderungen lernen können.

Jürg Berthold

Wochenbrief 20_23