Schönheit empfinden

Schönheit ist nicht nur die Übereinstimmung mit aktuell geltenden Normen. Eine eigenständige Wahrnehmung zu fördern, gehört zu den Aufgaben der Schule. Siehe Wochenbrief.

Sauschön sei das, sagte mir ein Schüler beim Anblick unseres beleuchteten Schulhauses, nachdem ich mit ihm frühmorgens in der Dunkelheit vom Bahnhof heraufgekommen war.

Am Montag dieser Woche kommentierte eine Schülerin, die im Moment im Hauswirtschaftlichen Kurs ist, eines ihrer Fotos des Husi-Orts Rheinau mit «So schön!».

Beide Äusserungen dieser Jugendlichen haben mich sehr gefreut. Sie zeigen, dass sie ihre Umgebung wahrnehmen, sich von ihr ansprechen lassen und eine Beziehung dazu formulieren können. Ich verstehe dies auch als Ausdruck einer Form von Bildung, die am Gymnasium wichtig ist. Im Maturitätsanerkennungsreglement steht der folgende Satz:

«Die Schulen fördern gleichzeitig die Intelligenz, die Willenskraft, die Sensibilität in ethischen und musischen Belangen sowie die physischen Fähigkeiten ihrer Schülerinnen und Schüler.»

Ich hoffe, dass an der KUE die ästhetische Sensibilität der Jugendlichen – aber auch der Erwachsenen, die hier arbeiten – weiterentwickelt wird. Das ist nur schon wichtig, weil wir doch unserer schönen Anlage Sorge tragen wollen. Es ist aber auch wichtig, weil der Bezug zu unserer Lebenswelt (Mitmenschen, Umwelt) sorgfältig gestaltet werden soll. Dies scheint mir eine der dringenden Aufgaben unserer Zeit zu sein.

Im Unterricht spielt der Zugang zu fachlich schönen Objekten zweifellos in den musischen Fächern eine grosse Rolle, aber auch in der Mathematik spricht man von schönen Lösungen. Und natürlich ist in meinem Fach (Deutsch) die kunstvoll gestaltete Sprache ein grosses Thema. Ich erlaube mir deshalb das Vergnügen, eines der grossen deutschen Gedichte zum Abschluss zu zitieren.

Eduard Mörike formuliert in diesem Text gewissermassen eine Definition der Schönheit. Schön ist nicht, was allgemein anerkannten Normen entspricht und von der Mehrheit als schön anerkannt wird. Schön ist vielmehr, was in sich selber ruht und eine Einheit bildet.

Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,
An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,
Die Decke des nun fast vergessnen Lustgemachs.
Auf deiner weissen Marmorschale, deren Rand
Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,
Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelreihn.
Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist
Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form -
Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?
Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

Ich wünsche allen viele eigenständige Wahrnehmungserfahrungen von Schönheit.

Martin Zimmermann

Wochenbrief_1946