Sprache und Identität

Im aktuellen Wochenbrief schreibt Nicolas Diener über Sprache und Identität vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts.

Der Krieg in Osteuropa belastet uns alle. Als Lehrperson mache ich mir – neben den Betroffenen vor Ort – natürlich in erster Linie Sorgen um die geflüchteten Kinder und Jugendlichen, von denen viele sogar unbegleitet in ein fremdes Land fliehen mussten – man stelle sich das einmal vor! Ein gewisser Trost ist, dass verglichen mit den Opfern anderer Kriege zumindest eine hohe Solidarität in der Schweizer Bevölkerung besteht. Die Geflüchteten werden aufgenommen und integriert, gerade auch in den Schulen. So erhalten sie zumindest ein wenig Tagesstruktur und können Deutsch lernen, um durch den Schweizer Alltag zu kommen.

Doch wie funktioniert die Kommunikation mit den ukrainischen Kindern, bis es soweit ist? Viele der Jüngeren können noch kein Englisch. Umgekehrt spricht in der Schweiz fast niemand Ukrainisch, man kann es ja an Schweizer Unis auch nicht studieren – ausser ein wenig nebenbei im Slawistikstudium. Und ganz ehrlich: Viele haben sich wohl bis vergangenen Februar kaum überlegt, ob es überhaupt eine ukrainische Sprache gibt oder ob man dort einfach Russisch spricht.

Die Frage ist auch nicht unberechtigt. Denn je nachdem, wen man fragt, gehen die Antworten auseinander. Denn es gibt vereinzelt auch die Ansicht – vertreten unter anderem von Wladimir Putin höchstpersönlich – dass Ukrainisch ein russischer Dialekt sei.

Dass man in der Ukraine und Russland unterschiedlich spricht, ist unbestritten. Ebenso wenig aber auch, dass es zwischen den Sprachen starke Gemeinsamkeiten gibt. Denn wie fast alle osteuropäischen Sprachen haben sie sich über knapp tausend Jahre hinweg aus einer ursprünglich gemeinsamen «ur-slawischen» Sprache auseinanderentwickelt, ebenso wie beispielsweise das Französische, Italienische, Spanische, Rumänische und viele andere aus dem Latein.

Also was nun, Sprache oder Dialekt? Was sagt die Sprachwissenschaft dazu? Gar nichts, wenn sie es vermeiden kann. Denn diese Begriffe sind nach gängiger Lehre nicht sauber voneinander abgrenzbar, zumindest nicht bei verwandten Sprachen. Eine Walliserin und ein Sachse haben in der Regel grössere Kommunikationsprobleme als ein Spanier und eine Italienerin – zumindest, bis erstere auf Hochdeutsch wechseln.

Der Linguist Max Weinreich hat es recht gut auf den Punkt gebracht: «Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Flotte». Die Abgrenzung ist also nicht wissenschaftlich, sondern rein politisch.

Wozu dann überhaupt diese Unterscheidung? Wozu die teilweise erbitterten Streitgespräche? Weil es um Identität geht. Wozu man gehört und wozu nicht, definiert sich durch das Verhalten, und da viele von uns pausenlos plaudern oder tippen, ist die Sprache hierbei zentral. Nicht umsonst gilt der «Röstigraben» zwischen der Deutsch- und der Südwestschweiz als wichtigere kulturelle Grenze als die eigentlichen Landesgrenzen. Und während Schweizerdeutsch für Deutsche klar ein Dialekt ist, behandeln manche Schweizer*innen diese Einstufung als unerhörte Beleidigung.

Diese verbindende Wirkung der Sprache ist schon lange bekannt und wurde immer wieder bewusst politisch ausgespielt. In Frankreich beispielsweise wurden die Dialekte lange gezielt bekämpft, um in so einem grossen Land mehr Einheit zu schaffen. Auch die meisten der ca. 300 Sprachen Chinas werden von der Regierung als Dialekte des «Hochchinesischen» (Mandarin, der Ortssprache Pekings) bezeichnet – auch wenn sie einander etwa so ähnlich sind wie Deutsch und Englisch.

Anders herum gelten in Serbien und Kroatien, die eine konfliktreiche Vergangenheit miteinander haben, Kroatisch und Serbisch als separate Sprachen, sind aber bis auf kleinere Details wie die Monatsnamen identisch. Beide Länder haben Sprachämter, die die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen fördern sollen, und bei internationalen Konferenzen sind manchmal sogar Dolmetscher*innen dabei, die das Gesagte meist exakt unverändert wiedergeben.

Denn natürlich geht es bei der Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt ums Zusammen und ums Auseinander. Wenn Russland von Dialekten spricht, erhebt es Anspruch auf Fusion, die Ukraine mit dem Begriff «Sprache» dagegen auf Unabhängigkeit.

Und wie betreut man nun die geflüchteten Kinder aus der Ukraine? Zumeist auf Russisch. Nicht einmal wegen Ähnlichkeit mit dem Ukrainischen, sondern weil Russisch in der Ukraine aus historischen Gründen einen ähnlichen Status hat wie hierzulande Hochdeutsch. Und dieses versteht hier, Abgrenzungswille hin oder her, jedes Kind.

Nicolas Diener

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