Im letzten Wochenbrief hat Rektor Martin Zimmermann darüber nachgedacht, wie die Schule auf die Herausforderungen der Digitalisierung reagieren kann. Dass wir alle auch im Kleinen lernen müssen, vieles neu zu denken, zeigte mir ein schmales Büchlein, das ich hiermit sehr zur Lektüre empfehle.
„Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens“, lautet der erste Titel in der neuen Reihe „Digitale Bildkulturen“ (Wagenbach Verlage). Das ebene erschienene Bändchen stammt vom prominenten Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich. Er macht darin an vielen Beispielen deutlich, wie die Denkmuster, die wir besitzen, um das Phänomen «Selfie» zu fassen, zu kurz greifen: Wer Selfies als Ausdruck von übersteigertem Narzissmus beklagt, den Einsatz von Filtern als Authentizitätsverlust beschreibt oder Selfie-Unfällen als gewissermassen verdiente Strafe für die Todsünde der Eitelkeit belächelt, der geht am Kern der Sache vorbei und verkennt deren Bedeutung.
Das weltweite Phänomen, das sehr viele Ausprägungen kennt, muss, so Ullrich, möglichst moralfrei analysiert werden. Zwei, drei Hinweise müssen hier genügen, machen aber vielleicht Lust auf die Lektüre: Dass Selfies auch in der islamischen Kultur existieren, wo das traditionelle Bilderverbot eine zentrale Rolle spielt, macht deutlich, wie wenig man mit westlichen Kategorien von Selbstdarstellung und Authentizität zu fassen vermag. Oder: Die in den Sozialen Medien beliebten Filter können besser verstanden werden, wenn man vom Einsatz von Masken im Theater ausgeht. Interessant auch die Überlegung, dass der Einsatz von Selfies als neue mündliche Bildkultur verstanden werden muss.
Ein spannendes Beispiel ist auch das Emoji mit dem Unicode U+1F61C: das verzerrte Gesicht, das uns die Zunge rausstreckt und bei dem ein Auge geschlossen ist. Interessant ist, dass das Vorbild für dieses Emoji nicht ein allgemein üblicher Gesichtsausdruck war, sondern die ursprüngliche Smiley-Zeichenkombination: ;-P. Das Emoji wiederum führte zur Selfie-Pose und damit zu einer Veränderung der Alltagsmimik, die selbst Präsident Barack Obama in einem Werbevideo für seine Gesundheitsreform einsetzte.
Schulen und Eltern tun gut daran, sich für solche Gegenwartsphänomene offen zu zeigen und die eigenen Deutungsmuster zu hinterfragen, auch wenn vielleicht zögert, Ullrichs weitreichender Einschätzung zu folgen: «Als Millionen über Millionen weltweit damit anfingen, sich selbst zum Bild zu machen, begann nicht weniger als eine neue Phase der Kulturgeschichte» (Ullrich 2019: 66). Seine Schlussfolgerung, dass «der aktive Umgang mit Bildern zu einer ebenso grundlegenden Kulturtechnik avanciert wie das Beherrschen einer Sprache» (ebd., S. 60), werden wir im Auge behalten.
Jürg Berthold, Prorektor
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