Über unterschiedlich lange Schatten springen

Warum die mündliche Mitarbeit wichtig ist und warum es so schwierig ist, sie zu messen, erfahren Sie im aktuellen Wochenbrief!

Mündliche Leistungen sind in der Zeugnisnote angemessen zu berücksichtigen, heisst es in der «Wegleitung zur Notengebung». Das war neulich der Ausgangspunkt für ein Gespräch mit einem Lehrerkollegen, das auch aufschlussreich sein kann für jene, um die es geht, die Schülerinnen und Schüler.

Ein Klassenunterricht, der dialogisch organisiert ist, lebt davon, dass sich möglichst viele möglichst intensiv am Gespräch beteiligen, das ist offensichtlich. Nichts Schöneres, als eine lebendige Auseinandersetzung, bei der etwas auf dem Spiel steht! Nichts Befriedigenderes, als eine Diskussion, bei der die Voten aufeinander Bezug nehmen und sich die Lehrperson nur ab und an moderierend einschalten muss! Das sind unbestrittene Highlights, auch im Licht einer den Klassenunterricht mit Skepsis betrachtenden Didaktik. Der Alltag des Frontalunterrichts sieht nämlich oft anders aus: Es sind immer die paar gleichen, die mitmachen, und von aussen erscheinen die Antwortgeber nicht selten wie Stichwortlieferanten für einen Ablauf, der weitgehend auch ohne sie funktionieren würde.

Dass die mündliche Mitarbeit im Fremdsprachenunterricht noch eine ganz andere Funktion hat, ist auch offensichtlich. Da geht es, vor allem zu Beginn, um das praktische Üben und Erlangen kommunikativer Kompetenzen. Nichts Schöneres auch hier, als wenn eine Klasse mit Feuereifer dabei ist!

Die Gründe für eine mangelnde Beteiligung können vielfältig sein, und eine Lehrperson wird sich hinterfragen, um herauszufinden, was sie anders machen könnte, damit es gut läuft: Warte ich lange genug nach den Fragen? Treffe ich das Niveau? Oder sind die Fragen zu einfach, so dass es die Schüler unter ihrer Würde finden zu antworten? Soll ich sie zuerst einzeln was aufschreiben oder sich in Gruppen austauschen lassen? Vielleicht haben dann alle etwas beizutragen. Sind sie abgelenkt oder mit etwas anderem beschäftigt? Ist mein Fach und was ich vermitteln will, attraktiv für alle? Komme ich an?

Solange man für das Funktionieren des eigenen Unterrichts auf die Beiträge angewiesen ist und man Teil dessen ist, was man misst, hat die Beurteilung einen schalen Beigeschmack. Die Beurteilung mündlicher Leistung kann aufgrund solcher Selbstzweifel – gewollt oder ungewollt – einen disziplinierenden Hintersinn haben. Vor allem früher war es gang und gäbe, die mündliche Leistung am Semesterende summarisch «zum Runden» zu benützen, ohne dass klar war, unter welchen Bedingungen und mit welcher Gewichtung die Note zustande gekommen war. Heute kann man das besser machen, auch wenn der skizzierte Grundkonflikt bleibt und die Quantifizierung noch schwieriger ist als sonst schon beim Setzen von Noten.

An der KUE wollen wir uns Mühe geben, einige Grundsätze zu beachten. Zum Beispiel soll die Beurteilung mündlicher Leistungen nach klar kommunizierten Regeln erfolgen. Diese werden von Lehrperson zu Lehrperson unterschiedlich und müssen auch nicht in jedem Semester gleich sein: In Frage kommen neben einer quantitativen und qualitativen Bewertung der Unterrichtsbeteiligung auch die Bewertung punktueller Einzel- oder Gruppenleistungen, etwa von mündlichen Prüfungen, Vorträgen oder Gruppendiskussionen oder auch eine Selbsteinschätzung. Es sollen in jedem Fall Begründungen verlangt werden dürfen, eine Vermischung von Disziplinarischem und Leitungsmässigem ist nicht statthaft. Wo projektartig selbstständig gearbeitet wird, stellt sich die Thematik noch einmal in einem anderen Licht dar.

Die Schatten, über die die Schülerinnen und Schüler springen müssen, wenn sie sich exponieren, sind nicht für alle gleich lang. Trotzdem ist der Anspruch auf Vergleichbarkeit auch aus Gerechtigkeitsgründen als Ideal hochzuhalten, aber er ist immer wieder auch zu relativieren: Wir haben es mit individuellen Persönlichkeiten zu tun, und die lassen sich letztlich nicht messen.

Jürg Berthold, Prorektor

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