Die Ferienwochen, wenn das Schulhaus leer ist, werden auf vielfältige Art zum Arbeiten genutzt. Die Schülerinnen und Schüler staunten nicht schlecht, als sie zum Semesterbeginn die verglaste Wand zum Sitzungszimmer im Haus A mit Namen vollgeschrieben vorfanden. Gegen den Gang hin reihen sich dicht an dicht Vornamen, leuchtende Buchstaben in loser Verteilung, Zeile um Zeile von der Decke bis zum Boden. Im Innern erscheint alles umgedreht: Die Schrift ist spiegelverkehrt und nicht weiss, sondern schwarz. Die Offenheit, die das Sitzungszimmer vorher ausstrahlte, ist zwar etwas verschwunden, auch wenn der Sichtschutz nicht blickdicht ist. Dafür gibt es etwas Neues im Schulhaus, das einen für einen Moment innehalten lässt.
Ein Grüppchen von Drittklässlerinnen steht davor und rätselt, was das sein könnte. Ob mein Name auch vorkommt? Zwei werden schnell fündig, da die Namen in alphabetischer Reihenfolge angeordnet sind. «Das sind nicht eure Namen, aber ihr seid auch gemeint», sage ich und erkläre ihnen, dass es sich um die Vornamen all jener handelt, die im August 2018 da waren, als das Schulhaus eröffnet wurde, also alle die Schülerinnen und Schüler, die in den jetzigen 2. und 4. Klassen sind, die Mitglieder des Teams und die Schulkommission.
Die Idee, die hinter den 155 Eigennamen steht, ist klar: Die Wand soll daran erinnern, dass es viele einzelne Menschen sind, die die Schule aufbauen und beleben. Stellvertretend ist der Gründungsjahrgang genannt, noch viele weitere Jahrgänge werden die Schule gestalten und prägen, sowohl am jetzigen Standort wie auch unten am See. Die Namen stehen für konkrete Individuen: Sie haben einen eigenen Namen und eine Persönlichkeit, auch wenn sie sich nicht alle einen Namen machen werden. Die Namen stehen für schräge Vögel, bunte Hunde, graue Mäuschen und schlaue Füchse, kurz, für alles Individuelle, von dem die KUE lebt.
Eigennamen haben mich immer fasziniert, sie sind die Besondersten unter allen Wörtern, finde ich. Das liegt einmal daran, dass in sie oft spannende Herkunftsgeschichten eingewoben sind. Welches Kind interessiert sich nicht irgendwann einmal dafür, welche Geschichte hinter seinem Namen stehen könnte? Eigennamen funktionieren aber auch ganz anders als andere Nomen: Sie nehmen auf etwas Singuläres Bezug, während Wörter wie «Hund» oder «Tisch» für alle möglichen Tische und Hunde stehen. Man nennt sie deshalb Gattungsnamen. Die Sprachphilosophie müht sich schon lange damit ab, was Namen auszeichnet. Eigennamen sind inhaltsleer, sagen die einen; sie beschränken sich auf jenes Bezugnehmen auf etwas ganz Individuelles. Nein, Eigennamen sind mehr als dieser Bezug auf einen konkreten Menschen; sie beinhalten – gerade andersrum – die Gesamtheit aller Sachverhalte und Eigenschaften der Person mit diesem Namen.
«Das sind nicht eure Namen, aber ihr seid doch auch gemeint». In der harmlos scheinenden Antwort auf die Bemerkung der Schülerinnen tut sich also ein kleiner Abgrund auf. Die Tatsache, dass mehrere Namen mehrmals vorkommen, verstärkt die Irritation und kann einen ins Grübeln bringen. Wenn nach der Aufnahmeprüfung, die diese Woche durchgeführt wird, im Sommer neue Elenas, Philips, Lisas und Martins an die KUE in die Probezeit eintreten, werden sie irgendwann ihren Namen, der nicht ihr Name ist, entdecken und sich darin spiegeln können. Es sind die Individualitäten von allen von uns, die der KUE ihr Gesicht geben.
Jürg Berthold
Wochenbrief 20_11