Von der Tugend, fünfe gerade sein zu lassen

Warum Lehrpersonen nicht zu konsequent konsequent sein sollten, hier im aktuellen Wochenbrief.

In Ratgebern ist immer wieder zu lesen, wie wichtig konsequentes Verhalten in der Erziehung ist. Das hat mit Verlässlichkeit und Berechenbarkeit als Basis jeder tragfähigen Beziehung zu tun: Eine Mutter, die umsetzt, was sie angekündigt hat, ist glaubwürdig. Ebenso ein Vater, der einhält, was er verspricht, oder ein Erzieher, der sich selbst an das hält, was er von anderen fordert. Auf ein solches Gegenüber kann man sich verlassen, einem solchen Menschen vertraut man. Das alles gilt auch für Lehrpersonen. Eine Lehrerin, die eine Massnahme ankündigt, sie aber nicht umsetzt, verliert an Glaubwürdigkeit. Ein Lehrer, der Pünktlichkeit von seiner Klasse verlangt, diese aber selbst immer wieder warten lässt, verspielt das Vertrauen der ihm anvertrauten Jugendlichen. Wo demgegenüber ein fester Boden vorhanden ist, kann man sich auf die Beziehung einlassen. Wir vermitteln ja nicht einfach Wissen, sondern arbeiten auf einer möglichst tragfähigen gemeinsamen Basis mit unseren Schüler:innen. Wo es gelingt, eine solche Beziehung herzustellen, anfänglich meist nur als fein geknüpfter Faden, kann Lernen wirklich stattfinden. Als soziale Wesen orientieren wir Menschen uns an denen, die wir achten. Und wo wir selbst respektiert werden und wissen, woran wir sind, fällt uns der Respekt leicht.

So wichtig es ist, konsequent zu sein, so wichtig ist es, das nicht bis zur letzten Konsequenz zu sein. Wenn wir Prinzipielles ins Feld führen und päpstlicher als der Papst sind, erscheinen wir für andere manchmal vielleicht nur als «Tüpflischiesser». Wer mit Menschen zu tun hat, muss viele Augen haben, die er zudrücken kann. Gerade wir Lehrpersonen, die den jungen Menschen immer wieder neu begegnen müssen, müssen fünf gerade sein lassen können – und zwar nicht obwohl, sondern weil wir eine konsequente Linie verfolgen. Das ist manchmal gar nicht so einfach. Verliere ich das Gesicht, wenn ich diesmal nichts sage? Werde ich noch ernstgenommen, wenn ich eine Ausnahme mache? Bin ich noch glaubwürdig, wenn ich darüber hinwegsehe? Was sind, muss ich mir als Lehrperson immer überlegen, die wirklich zentralen Punkt und was ist letztlich nebensächlich? Wo weiche ich kein Jota ab, und wo versuche ich vom Wasser zu lernen, das geschmeidig und weich ist und dennoch so machtvoll wirkt.

Wenn der Humanist Erasmus von Rotterdam (um 1467-1536) davon spricht, dass der erste Schritt zum Lernen die Liebe zum Lehrer sei, dann geht es um diese Zusammenhänge, um Verlässlichkeit und Tragfähigkeit der Beziehung, um Konsequenz und Gradlinigkeit, aber auch um Verhältnismässigkeit, Geduld, Grosszügigkeit und Wohlwollen. Das alles ist für uns Lehrpersonen sehr wichtig, und zwar auch dann, wenn wir nicht mehr die finsteren Gesellen sind, an die Erasmus dachte: «Es gibt aber einige (Lehrer) von so unliebenswürdigem Wesen, dass nicht einmal ihre Frauen sie gerne zu haben vermögen: sie zeigen ein grimmiges Gesicht, ein finsteres Gebaren; sie scheinen voll Zorn, selbst wenn sie gnädig aufgelegt sind; sie können nicht gefällig sprechen, nicht den Lachenden freundlich begegnen. Man könnte wohl meinen, dass sie unter einem unfreundlichen Stern geboren worden seien.»

Weihnachten ist nicht die schlechteste Zeit, sich solche Gedanken zu machen. Ich wünsche allen eine besinnliche Zeit, Musse und Entspannung zwischen den Jahren und schon jetzt einen guten Start ins 2022 – vielleicht mit Vorsätzen, die einbeziehen, dass wir Menschen aus krummem Holz geschnitzt sind.

Jürg Berthold

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