Die langen Ferien sind vorbei, es beginnt wieder der Ernst des Lebens, wie man bisweilen sagt. Für viele ist damit auch eine neue Situation verbunden: Knapp ein Drittel der Schüler:innen beginnt in einer neuen Klasse. Ungefähr ein Viertel startet neu an der KUE, etwa ein Fünftel kommt ins Maturjahr. Auch einige Lehrpersonen sind in diesen Tagen neu an der KUE, ein gutes Dutzend. Und zehn Klassenlehrpersonen empfangen am Montag die Klassen, die sie die nächsten Jahre begleiten werden. Da ist viel in Bewegung im Schulhaus, Sichtbares und weniger Sichtbares. In Neugier und Vorfreude mischen sich auch Aufregung, Nervosität und Unsicherheiten. Vielleicht auch Befürchtungen, Ängste, Stress. Das gilt nicht nur für die Schülerschaft. Lehrpersonen, auch solche, die schon viele Jahre unterrichten, schlafen vor den ersten Tagen ebenfalls nicht so gut.
Manchmal kommt beim Reden über solche neuen Situationen der Begriff der Komfortzone ins Spiel. Meist in Verbindung damit, dass man sie verlassen soll, spricht man von outside the comfort zone. So richtig über diese Vorstellung nachgedacht habe ich erst in diesen Sommerferien, nämlich, als jemand in einem ganz anderen Kontext die Bemerkung fallen liess: «Das Leben beginnt dort, wo man die eigene Komfortzone verlässt.» Selbstverständlich versteht man, was gemeint ist: Alle kennen das Gefühl, sich auf eine besondere Art als lebendig zu erfahren, wenn man etwas Neues wagt, vor allem wenn man es schafft. Trotzdem macht sich der Satz verdächtig.
Etwas Recherche macht deutlich, dass die Rede von der Komfortzone ursprünglich aus der kognitiven Lerntheorie kommt und den Grad der Anforderung beschreibt. Schon seit mehr als hundert Jahren weiss man, was jede Lehrperson zur Grundlage ihres Unterrichtens machen muss: Man lernt am besten in einem Bereich der milden Anspannung, also wenn man weder unter- noch überfordert ist. Wir alle lernen am besten in einem Bereich, der über dem liegt, was wir allein können. Aber es muss mit Unterstützung zu erreichen sein. Die Komfortzone liegt unterhalb dieses Lernbereichs, Lernen und Entwicklung benötigen ein gewisses Mass an Unsicherheit.
Ab den 1990er Jahren wurde der Imperativ, die «Comfort Zone zu verlassen», zu einem Leitspruch im Business-, Motivations- und Coachingbereich und floss in die Populärpsychologie ein. Er wurde in TED-Talks und Ratgeberliteratur verbreitet und stieg auf zum Leitstern einer Selbstoptimierungsideologie.
Interessant ist, dass der Appell zum Verlassen seiner Komfortzone in seltsamem Kontrast zur sonstigen Bewertung von Komfort steht. In vielen Kontexten ist Komfort positiv konnotiert. Mit dem Ursprung im Bereich der Lerntheorie kann das negative Bild kaum erklärt werden. Hintergrund ist wohl eher ein neoliberaler Diskurs der Selbstverantwortung: Individuen werden für ihre Entwicklung selbst verantwortlich gemacht. Wer sich nicht weiterentwickelt, ist selbst schuld. Wer stehen bleibt, ist «nicht ambitioniert». Die Komfortzone wird zur Gefahrenzone des Stillstands stilisiert, es herrscht ein unreflektierter Fortschrittsimperativ. Die Rede vom Verlassen der Komfortzone verschleiert oft Konformitätsdruck: Man muss sich eben anpassen. An unsichere Jobs, neue Technologien, hohe Mobilitätsanforderungen. Soziale und strukturelle Hindernisse wie Armut, Diskriminierung oder chronische Belastung werden ignoriert, resp. der Inflexibilität des Einzelnen angelastet. Ruhe, Sicherheit und Selbstfürsorge gelten plötzlich als Schwäche oder Zeichen von Stagnation. Dabei sind stabile Phasen essenziell für Regeneration, Kreativität und psychische Gesundheit.
In diesem Sinne wünsche ich allen einen guten Start ins Schuljahr – mit bereichernden Erfahrungen ausserhalb und innerhalb der Komfortzone. Ich wünsche allen Freude an dem vielen, was es zu entdecken gibt, und Neugier, es verstehen zu wollen!
Jürg Berthold
WB_34_2025