Warum wir an den Wert von Bildung erinnern müssen

Der Wert von Bildung lässt sich nicht in Analogie zum Nutzen von Werkzeugen verstehen. Warum er verteidigt werden muss, lesen Sie im Wochenbrief.

Bei grosser Trockenheit giessen wir Pflanzen regelmässig, um sie vor dem Verdursten zu bewahren. Setzt der Regen dann ein und sie haben die Zeit gut überstanden, wird man vielleicht sagen: Es wäre auch mit ein bisschen weniger Wasser gegangen. Der Begriff, den ich für diesen Sachverhalten in den letzten Wochen gelernt habe, heisst "Präventionsparadox": Präventive Massnahmen haben die Tendenz, im Rückblick – gerade wenn sie wirkungsvoll gewesen sind – als übertrieben zu erscheinen: Weil man nicht sehen kann, wie sich die Dinge ohne diese Vorkehrungen entwickelt hätten, schätzt man deren Bedeutung falsch ein.

Der im Zusammenhang mit den Covid19-Präventionsmassnahmen verwendete Begriff eröffnet auch im schulischen Kontext eine interessante Perspektive: Könnte man Lernen nicht als Präventionsmassnahme gegen Unbildung verstehen? Die allgemeine Schulpflicht, so gesehen, wäre eine staatlich vorgeschriebene Massnahme, um bestimmte Dinge zu vermeiden, etwa dass sich Fake News und Verschwörungstheorien viral ausbreiten können oder dass man sich anstecken lässt von Ideologien und Unsinn aller Art. Der komplexe und langwierige Immunisierungsprozess, den Mittelschülerinnen und Mittelschüler durchlaufen, macht sie nämlich zwar nicht immun, aber widerstandsfähiger gegen Scheinwahrheiten, Vereinfachungen und falsche Verheissungen – besonders dann, wenn sie sich die Dinge nicht nur äusserlich anlernen, sondern verinnerlichen. Dann werden die jungen Erwachsenen nicht nur in die Welt von Studium und Arbeit entlassen, sondern sind wahrhaft mündig und reif und sind eingeübt ins Selber-denken im Sinne des Aufklärers Kant. «Vertiefte Gesellschaftsreife» heisst das im Jargon von Bildungsforschern.

Denkt man den Gedanken von Lernen als Prävention zu Ende, dann müsste sich die Schule aber auch auf das entsprechende Paradox gefasst machen: nämlich dass der Wert der Bildung gerade bei den Gebildeten immer wieder in Frage gestellt wird und dass man da und dort meint, es ginge auch mit weniger. Wir Mittelschulen müssten, um auch eine Resistenz gegen die Versuchungen eines Bildungsabbau aufzubauen, nicht nur dieses und jenes lehren, wir müssten auch im Auge behalten, dass gleichzeitig der Wert dieser Art Bildung im Bewusstsein verankert wird. Gerade wenn man vieles gelernt hat – so kann man aus dem skizzierten Zusammenhang lernen –, hat man die Tendenz zu vergessen, wie es wäre ohne all das Gelernte.

Das Sokratische «Ich weiss, dass ich nichts weiss!» ist nicht Ausdruck von Koketterie mit Unbildung. Es entspringt vielmehr der Einsicht, dass mit dem Wissen auch gleichzeitig das Nichtwissen steigt: Mit allem, was ich mehr weiss, eröffnen sich Fenster in Welten, von deren Existenz ich nun zwar weiss, die ich mir aber erarbeiten muss. Bei vielen Dingen, die zum sog. Mittelschulstoff gehören, erschliesst sich deren Nutzen deshalb auch nicht unmittelbar. Selbst dort, wo sich der Nutzen als Vorbereitung für das spätere Fachstudium erklären mag, kann man nicht direkt einsichtig machen, wozu das alle, also auch jene, die etwas ganz anderes machen werden, wissen sollen. Oft ist schon die Frage, wozu etwas nützlich sei, Ausdruck davon, dass man es noch nicht verstanden hat. Sich den Wert von Bildung nach der Analogie zu Werkzeugen erschliessen zu wollen greift auf alle Fälle zu kurz.

Die Breite, Tiefe und Kohärenz der Mittelschulbildung lässt sich im Lichte der Parallele zum Präventionsgedanken als Aufbau von «Verarschungsresistenz» verstehen. Das ist, zugebenermassen, direkt und derb formuliert, es macht aber deutlich, dass der Angriff auf unsere Integrität nicht nur von Viren geführt wird, sondern auch von Unsinn aller Art, gegen den wir uns zu wappnen lernen müssen.

Jürg Berthold

Wochenbrief 20_21