Was die Schule im Innersten zusammenhält

Wie viele Lektionen braucht jedes Fach, damit sich eine optimale Qualität der Matur ergibt? Gedanken dazu im aktuellen Wochenbrief.

Man stelle sich folgendes Spiel unter Lehrpersonen vor: Alle notieren sich heimlich auf einen Zettel, wie viele Lektionen ihr Fach eigentlich benötigen würde, damit sie es angemessen unterrichten könnten. Dann gibt man den Zettel in einen Topf und zieht einen neuen. Nun haben alle die Aufgabe, für die Forderung, die da Schwarz auf Weiss steht, ein Plädoyer zu halten und Argumente in fremder Sache vorzutragen. Der erste Teil ist die Haltung, mit der in aller Regel Diskussionen um Stundendotationen geführt werden. Die Erfahrung, dass es dabei zu heftigen Zerwürfnissen kommen kann, haben alle Kollegien im Zusammenhang mit auferlegten Stundentafeländerungen gemacht. Der zweite Teil der Spielanordnung könnte ans Licht bringen, dass das, was eine Mittelschule anstreben sollte, mehr ist als die optimale Verteilung von Maximalforderungen, resp. der entsprechende Kompromiss.

Aktuell ist die Schulleitung mit einer Gruppe von Lehrpersonen am Vorbereiten einer Retraite. An den zwei Tagen im Januar soll es darum gehen, eine (auch durch äussere Vorgaben) anstehende Revision der KUE-Stundentafeln in Gang zu bringen. Es soll um mehr gehen als um ein Nullsummenspiel in einem hochausbalancierten System. Sicher, man kann an jeder Stundentafel das eine oder andere schrauben – etwa im Hinblick auf Wahlmöglichkeiten, offene Formen und Akzente. Man kann hier die Vertiefung etwas fördern und dort die Individualisierung fördern, oder man kann Massnahmen ergreift, die Ruhe ins überhitzte System bringen.

Das Resultat wird aber – so muss man leider vermuten – sowohl für den Blick von aussen als auch für das Erleben von innen selbst im besten Fall kaum Neuerungen bringen. – Warum das so ist? – Weil der «generische Code», von dem in einem der letzten Wochenbriefe im Zusammenhang mit der Schulraumplanung die Rede war, eben nicht nur den Zusammenhang von Klasse und Schulzimmer betrifft. «Klasse, Schulzimmer, Fach, anwesende Lehrperson und Anstellungsprozent in Lektionenzahl» bilden einen fixen Bezugsrahmen, der das ganze System zusammenhält.

Neuerungen, die von der Gesellschaft gefordert werden, müssen in die Logik dieses Systems übersetzt werden, damit sie sich in der Schulrealität durchsetzen können. Wenn neue Inhalte berücksichtigt werden sollen, muss in der Regel ein Fach gefunden werden, das zuständig ist; so geschehen bei staatskundlichen Themen, die der Geschichte zugeschlagen wurden. Wenn ein neues Fach eingeführt werden soll (z. B. «Religion und Kulturen» oder Informatik im Jahr 2022), dann braucht es ein Stück vom Lektionenkuchen, und das bedeutet: Es muss seinen Platz in der Stundentafel finden, indem es Anderes verdrängt. Soll ein fächerübergreifendes Problem fächerübergreifend behandelt werden, dann braucht es entweder ein neues Gefäss oder Team-Teaching: In beiden Fällen wird der Rahmen gedehnt und es entstehen Mehrkosten.

Gegenwärtig finden an vielen Mittelschulen Diskussionen statt, wie Probleme der Gegenwart, für die der Ausdruck «Klimakrise» steht, im Unterricht behandelt werden können. Die Schwierigkeiten, diese Thematik unterzubringen, zeigen exemplarisch den skizzierten Zusammenhang auf: Da der Themenkomplex offensichtlich quer zu den Fächern liegt, ist er in einem System, das durch jenen generischen Code bestimmt wird, nicht befriedigend behandelbar. Und das ist nur eines von vielen Beispielen. Zu nennen wären auch Entwicklungen, die mit Globalisierung und Digitalisierung zusammenhängen, oder die veränderte kulturelle Bedeutung von Bildern, also das, was in der Forschung iconic turn heisst und im Kanton Aargau gerade zu einem neuen Fach geführt hat.

Lehr- und Lernformen, die mit der Digitalisierung einhergehen, rufen also nicht nur nach neuen Raumkonzepten. Es stellt sich auch die Frage, wie die als Korsett wirkende Koppelung aufgebrochen werden kann. Auf diese spannende Auseinandersetzung, die an der KUE parallel zur Diskussion um Raumkonzepte geführt wird, freuen wir uns. Wir sind zuversichtlich, dass sich die rechtlichen Vorgaben und die reglementarischen Bestimmungen als flexibel genug erweisen werden, die hohe Qualität der Schule im Hinblick auf die Hochschulreife mit adäquaten Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart zu verbinden.

Jürg Berthold

Wochenbrief 20_44