Wir haben nicht alles in der Hand

Vieles ist fragiler geworden in den letzten Wochen. Überlegungen dazu finden Sie im Wochenbrief

Das Coronavirus hat uns im Griff. Wir haben nicht alles in der Hand.

Viele von uns machen im Moment die Erfahrung, dass das Leben zerbrechlicher ist, als wir vielleicht meinten. Dies zeigt sich auch im Schulleben. Die gewohnte Routine gibt uns nicht mehr die übliche Sicherheit, wir müssen kurzfristig neue Wege suchen und Spannungen aushalten.

Das gilt für die Lehrpersonen in gleichem Masse wie für die Lernenden – und auch für die Familien, die den Unterricht unter den gegebenen Umständen bewältigen müssen.

Solche Gedanken kamen mir, als ich von Sandra Kühne, unserer Lehrerin für Bildnerisches Gestalten, die Fotografie ihres Scherenschnitts bekam.

Man sieht eine Hand, die ein filigran ausgeschnittenes Papier ganz leicht anhebt. Die schwarzen Linien zeichnen auf dem weissen Hintergrund eine kräftige wirkende Hand, obwohl es sich doch nur um Papier und um eine Abbildung handelt. Die menschliche Hand, welche den Scherenschritt kunstvoll und sicher gemacht hat, wirkt dagegen eher passiv und zurückhaltend.

Dieser Gegensatz hat mich fasziniert. Der Mensch hat mit seiner Technik sehr viel erreicht. Wir verlassen uns auf die Dinge, die wir geschaffen haben. Sie vermitteln uns Sicherheit. Aber eine Krisensituation wie die aktuelle zeigt auch die Fragilität unserer Konstrukte. Nicht alles, was wir uns zurechtgelegt haben, ist so stabil, wie wir das im Normalfall wahrnehmen wollen.

Letzte Woche gab in Schulkreisen vor allem die Medienmitteilung des Regierungsrats zu reden. Die Noten werden in diesem Semester ausgesetzt. Das ist sinnvoll, und ich bin froh, dass die Bildungsdirektorin diesen Entscheid gefällt hat. Der Verzicht auf Noten wird uns entlasten, weil wir im sogenannten Fernunterricht nicht einfach die üblichen Prüfungsformen einsetzen könnten. Die sorgfältige Reflexion darüber haben wir noch nicht breit genug führen können. Also wollen wir unsere Energie darauf verwenden, die Lernenden möglichst sorgfältig durch dieses aussergewöhnliche Semester zu begleiten.

Vielleicht werden alle Beteiligten (SchülerInnen, LehrerInnen, Eltern) dabei auch die Erfahrung machen, dass Noten als Motivation für Lernprozesse zwar durchaus nützlich sein können, dass aber die selbständige Beschäftigung mit Schulstoff zu einer intrinsischen Motivation führen kann.

Auch Noten gehören vielleicht zu den Konstrukten, auf die wir uns im Unterricht häufig zu stark verlassen. Sie sind vermutlich nicht die wichtigste Bedingung für nachhaltigen Unterricht.

Ich wünsche allen alles Gute in dieser fragilen Zeit.

Martin Zimmermann

PS: Wer sich für die Arbeiten von Sandra Kühne interessiert, findet auf www.sandrakuehne.ch Informationen.

Wochenbrief_2014