Wir sitzen alle im gleichen Boot

«The Great Acceleration» – und wir mittendrin! Warum das Thema der KUE-Winterthemenwoche uns beschäftigen muss.

Während der diesjährigen Winterthemenwoche (30. 11. ­­– 4. 12.) beschäftigen sich die Schülerinnen und Schüler aller Stufen aus unterschiedlichen Fachperspektiven mit dem «Klimawandel». Die Fokussierung auf dieses Thema wurde in einer schulweiten Abstimmung ermittelt. Die Themenauswahl hatte die mit der Vorbereitung betraute Schülergruppe präsentiert; es wurde gewählt vor «Kooperation» und «Konstruktion». Der Abstand zwischen den drei Themen war allerdings weniger gross, als man das vielleicht erwartet hätte. Das mag daran liegen, dass «Klimawandel» zwar an Aktualität kaum zu überbieten ist, aber auch Ängste oder Ohnmacht auslöst. Vielleicht hatte der eine oder die andere auch das Gefühl eines «Nicht-schon-wieder». Die Lehrpersonen, die ihre Lektionen in dieser Woche auf den thematischen Fokus ausrichten, werden allen möglichen Reaktionen Raum geben und sich Zeit nehmen müssen, auch über Fragen ins Gespräch zu kommen, die nicht im engeren Sinne fachlicher Natur sind. Das ist ebenso wichtig wie die Vertiefung einschlägiger Erkenntnisse. Im Unterschied zu anderen Themen kann man sich hier nicht auf einen Standpunkt ausserhalb zurückziehen: Wir alle, Lehrpersonen wie Schüler*innen, sitzen im gleichen Boot, und die See wird zunehmend rauer. Niemand von uns kann sich entziehen – ähnlich wie bei Corona.

«Anthropozän» scheint sich als Begriff für unsere Lage zunehmend zu etablieren: Wenn nicht alles täuscht, sind wir in einer neuen erdgeschichtlichen Epoche, einer Epoche, in der der Mensch mit seinen Aktivitäten irreversibel ins Erdsystem eingreift und zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren geworden ist. Zu den Folgen gehören neben dem Klimawandel auch das grosse sechste Artensterben, die Veränderungen der Weltmeere und grosser Landstriche, der Verlust der zur Verfügung stehenden Ressourcen und Verschmutzungen aller Art.

Es besteht deshalb ein wesentlicher Unterschied zur aktuellen Pandemie: Diese wird in mehr oder weniger naher Zukunft vorüber sein, auch wenn uns ihre Folgen darüber hinaus noch beschäftigen werden. Ganz anders das Problem der Globalen Erwärmung und der damit verbundenen anderen Beschleunigungseffekte menschlicher Aktivitäten: Sie werden das Leben von uns allen zunehmend noch stärker bestimmen und uns – nach allem, was wir wissen – vor riesige Herausforderungen stellen. Die durch Corona auferlegten Einschränkungen werden uns rückblickend im Vergleich dazu lächerlich vorkommen, fürchte ich.

Für die Schulen besteht eines der grössten Probleme darin, wie wir Inhalte und Zielsetzungen des Unterrichts im Licht dieser Situation verstehen sollen. Worauf sollen wir die Schüler vorbereiten? Was werden sie brauchen? Was müssen sie wissen, können und verstanden haben? Da sind einerseits die Gewichtungen und Proportionen, die sich verschieben. Dürfen wir uns noch Zeit nehmen für dieses oder jenes Detailgebiet? Andererseits wirft das Verständnis unserer Gegenwart als «Anthropozän» ganz neue Fragen auf: Entwicklungen, die in traditionellen Darstellungen als positiv gewertet wurden – etwa Fortschrittserzählungen aller Art –, erscheinen plötzlich in ihrer Ambivalenz. Vertraute Begriffe wie «Moderne» oder gängige Unterscheidungen wie jene von «Natur» und «Kultur» müssen überdacht werden. Werte, die zentral für unserer Selbstverständnis sind – etwa Freiheit in Bezug auf Konsum und Mobilität – werden zu Treibern von Entwicklungen, die eben diese Werte zerstören. Tätigkeiten, die als harmlos erschienen – etwa was wir essen oder anziehen –, zeigen sich in diesem grösseren Zusammenhang in ihrer wahren Dimension.       

Das Thema während einer Woche zu behandeln heisst nicht, es abzuhaken, um es nachher beiseite legen zu können. Es geht auch nicht darum, es in den Griff zu bekommen. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Wir müssen uns ihm aussetzen. Die Fokussierung soll Türen öffnen und die Dringlichkeit eines Themas ins Bewusstsein heben, von dem wir alle eigentlich schon vieles wissen. Und das Wichtigste ahnen wir wohl alle: dass es höchste Zeit ist. Die Tatsache, dass Schüler*innen und Lehrpersonen im gleichen Boot sitzen, ist eine gute Voraussetzung für einen gemeinsamen Lern- und Erkenntnisprozess. Nicht nur bei diesem Thema. Ich wünsche allen eine lehrreiche Woche.

Jürg Berthold

Prorektor

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