Wissen und Handeln

Milo Raus erste Poetikvorlesung ist anregend, auch für die Schule.

«Wissen ist die Vernichtung von Gewissheiten. Wissen ist nicht Information, sondern eine Art von Überblick, der uns aus der Welt der Informationen befreit.» Dieser paradoxe Satz von Milo Rau stach mir ins Auge, als ich ihn in der Online-Zeitung «Republik» (4.11.22) las. Er stammt aus Raus bemerkenswerter erster «Zürcher Poetikvorlesung», einer Vortragsreihe, in der Schriftsteller:innen seit einigen Jahren jeweils an drei Abenden darüber reden, wie sie ihre Kunst verstehen.

Rau nimmt im zitierten Satz auf, was uns in schulischen Diskussionen immer wieder beschäftigt. Es ist das Spannungsfeld zwischen der Menge von «Schulstoffen», die abzuarbeiten sind, und dem Bedürfnis, die Schüler:innen zu befähigen, in der Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen.

Raus Aussage entspricht interessanterweise denn auch dem, was wir an unserer Retraite im September beschlossen haben. Unsere Charta ist darauf ausgerichtet, den Schüler:innen nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch den Aufbau von Selbstkompetenzen zu ermöglichen. Am deutlichsten wird dies im Satz 4: «Schüler:innen machen an der KUE Selbstwirksamkeitserfahrungen. Wir bieten ihnen Gelegenheiten, eigene Ideen und Vorstellungen zu verwirklichen.»

Milo Rau nennt in seinem Text fünf Hindernisse, die unsere Gesellschaft daran hindern, die aktuellen grossen Herausforderungen aktiv anzugehen. Ich greife nur zwei davon auf, ganz im Bewusstsein, dass ich die Überlegungen Raus etwas vereinfache.

Erstens: Überinformiertheit. Die medialen Möglichkeiten führen dazu, dass wir mit Informationen zugedeckt werden und dabei vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sehen. Dies wirkt lähmend, was fatal ist, wenn die Umstände ein Handeln verlangen. Als Lehrer:innen wissen wir sehr gut, dass (didaktische) Reduktion nötig ist. Wir müssen Überblicke ermöglichen und Perspektiven auftun, welche die Jugendlichen in Bewegung setzen.

Zweitens: Kritik. Wer alle Andersdenkenden verurteilt und als minderwertig bezeichnet, wer sich nicht auf den Gedanken einlassen kann, der andere könnte recht haben, wird sich in seiner Blase einschliessen und unbeweglich, das heisst handlungsunfähig, bleiben. Die Schule muss Debatten fördern, in denen mit Fakten, Argumenten und Haltungen eine echte, respektvolle Auseinandersetzung geführt werden kann.

Milo Raus Aussagen über die Kunst haben durchaus auch für die Schule Gültigkeit, wenn er etwa sagt: «Sie [die Kunst] setzt gegen den halb blinden, halb zynischen Realismus der Postmoderne einen Möglichkeitsrealismus, der Situationen schafft, in denen das Unmögliche nicht nur denkbar wird, sondern sich tatsächlich realisiert.» Ja, das muss für uns als Schule ein Ziel sein, wie es in der Charta heisst: «Die Schüler:innen bekommen Raum für eigene Projekte und übernehmen Verantwortung dafür.» Dabei dürfen sie viel wagen, etwas ausprobieren, sich der ausserschulischen Realität stellen und allenfalls auch gepflegt scheitern.

Martin Zimmermann

Wochenbrief_2245