Solange es Kunst gibt, ist alles gut

Für die letzte Woche des Jahres 2020 hat Sandra Kühne, Bildnerisches Gestalten, einen Wochenbrief geschrieben.

Ein Gemälde des holländischen Barockmalers Jan Vermeer zeigt eine Magd, die in einem kargen Raum, hinter einem kleinen Tisch stehend, Milch aus einem Krug in eine Schüssel giesst. Ein ebenso unspektakulärer wie schöner Moment. Die Milch fliesst als dünner Strahl aus einem Keramikkrug in die Schüssel. Die Frau scheint ganz in die Tätigkeit versunken. Ich habe diese stille Szene immer als trostreich empfunden. Vor einigen Wochen nun ist mir ein Gedicht der polnischen Lyrikerin Wisława Szymborska begegnet, welche dieses Trostreiche auf so schlichte wie treffende Weise beschreibt:

Solange diese Frau aus dem Rijksmuseum
in der gemalten Stille und Andacht
Tag für Tag Milch
aus dem Krug in die Schüssel giesst,
verdient die Welt
keinen Weltuntergang.
Dopóki ta kobieta z Rijksmuseum
w namalowanej ciszy i skupieniu
mleko z dzbanka do miski
dzień po dniu przelewa,
nie zasługuje Świat
na koniec świata.

Wisława Szymborska schafft es mittels weniger Worte mein wortloses Gefühl auszudrücken: Solange es Kunst gibt, ist alles gut. Auch wenn dies ein wenig pathetisch klingen mag, glaube ich fest daran. Künstlerischer Ausdruck, sei es in Form eines Romans oder einer Zeichnung, einer Netflix-Serie oder eines Lieds, hat mich und sicherlich fast jeden und jede von uns schon inspiriert, getröstet, beflügelt und berührt.

Ich unterrichte Bildnerisches Gestalten. Dort begegnen mir immer wieder wortlose und andächtige Momente. Zum Beispiel dann, wenn Schülerinnen ganz vertieft ins Zeichnen oder Malen sind. Ich staune immer wieder, wie schnell eine Doppellektion in einem Raum voller zeichnender Jugendlicher vergeht. Ein auf 90 Minuten gedehnter Augenblick.

Eine Schülerin, die letzte Woche während einer halben Stunde versuchte ihre Hautfarbe nachzumischen und ihrer Meinung nach daran scheiterte, schrieb unter den Farbfleck „irgendwie meine Hautfarbe“. Dieses „Irgendwie“ begegnet mir oft, wenn ich im Unterricht mit Jugendlichen über ihre Arbeiten spreche: „Sie, irgendwie stimmt öppis nöd.“ Nicht wortlos, aber ringend um den passenden Ausdruck. Meist spüren Schülerinnen und Schüler sehr genau, dass etwas noch nicht so ist, wie es sein sollte, können es jedoch nicht beschreiben. Der visuelle Ausdruck wohnt scheinbar in einem anderen Raum als der sprachliche Ausdruck. Und das ist wunderbar. Man muss es jedoch aushalten können.

Manchmal lasse ich Schülerinnen und Schüler in digital hochaufgelöste Gemälde zoomen. Wir entdecken die unterschiedlichsten Stellen und versuchen nachzuvollziehen wie diese gemalt wurden. Wenn man in Vermeers Gemälde zoomt, entdeckt man feinste Nuancen des malerischen Ausdrucks. Die Brotkruste wurde mit zahlreichen unregelmässig flirrenden Farbpunkten getupft. Im Gegensatz dazu wurden die Arme der Frau in zarten Farbabstufungen und ohne sichtbaren Pinselduktus vermalt. Und sogar dann, wenn man immer weiter hinein zoomt und im digitalen Rauschen landet, hört man das tröstliche Plätschern der Milch.

Sandra Kühne