Warum hat ein Vollwinkel eigentlich 360 Grad? Würde die Geometrie auch funktionieren, wenn es eine andere Zahl wäre? Warum ist der Satz des Thales wahr – und was folgt daraus? Solche Fragen tauchen typischerweise auf, wenn Schüler:innen über Mathematik nachdenken. Es sind schöne Fragen, weil sie die Struktur der Mathematik freilegen.
Um diese Fragen zu beantworten, muss man verstehen, wie die Mathematik als Wissenschaft funktioniert. Die Aufgabe von Forschenden ist es, Entdeckungen zu machen: Biologen entdecken neue Pflanzenarten, Physikerinnen suchen nach neuen Naturgesetzen, Chemikerinnen entdecken neue Verbindungen. Und Mathematiker entdecken neue Objekte und deren Beziehungen untereinander. Diese Objekte unterscheiden sich aber grundlegend von anderen: Sie sind nicht Gegenstand sinnlicher Erfahrung, sondern nur des Denkens.
Auch die Arbeitsweise in der Mathematik unterscheidet sich wesentlich von jener in den Naturwissenschaften. Während die Naturwissenschaften Experimente nutzen, um ihre Hypothesen zu verifizieren oder zu falsifizieren, kommt die Mathematik mit einer anderen Methode aus. Ihre Methode, Wahrheit zu sichern, ist der mathematische Beweis. Ein Beweis zeigt, dass eine Aussage wahr ist, indem sie logisch aus bereits bekannten Wahrheiten abgeleitet wird. Doch um etwas ableiten zu können, muss man auf vorhandenes Wissen zurückgreifen – irgendwo muss man schliesslich beginnen. Und weil am Anfang noch nichts existiert, müssen wir zunächst Annahmen treffen, die wir ohne Beweis akzeptieren.
Wenn wir uns nun aber mathematische Objekte nur vorstellen können und wir die Grundannahmen selbst festlegen – haben wir die Mathematik dann nicht einfach erfunden? Kann man in diesem Fall überhaupt noch von Entdeckungen sprechen?
Ein Blick auf ein konkretes Beispiel kann uns helfen, einer Antwort näherzukommen. Jeder Punkt auf dem Halbkreis über einer Strecke bildet mit den Endpunkten der Strecke ein rechtwinkliges Dreieck – das ist der Satz des Thales. Um diese Aussage zu beweisen, kann man auf Winkelsätze zurückgreifen, die wiederum davon ausgehen, dass ein Vollwinkel 360 Grad beträgt. Letzteres ist eine Konvention, also eine Entscheidung der Menschen, die sich aus praktischen Gründen durchgesetzt hat: 360 ist unter anderem nämlich eine besonders teilbare Zahl und daher für Winkelmessungen sehr geeignet. Dass im Thaleskreis ein rechter Winkel entsteht, ist hingegen keine Konvention, sondern eine logisch ableitbare Tatsache. Hätte man sich darauf geeinigt, dass ein Vollwinkel 100 Grad hätte, entspräche der rechte Winkel darin eben 25 Grad anstatt 90 Grad.
Die Antwort auf die Frage «Warum ist das so?» kann also lauten: Weil es eine Konvention ist – oder weil es sich mathematisch beweisen lässt. Und da wir den Satz des Thales beweisen können, scheint er eine Entdeckung zu sein. Wenn wir aber von Entdeckungen sprechen, meinen wir, dass wir etwas erkennen, das schon existiert, aber noch nicht bekannt war. Schwirren die mathematischen Gesetze also irgendwo in einer abstrakten Welt umher, unabhängig von uns – und warten nur darauf, entdeckt zu werden?
Dafür könnte sprechen, dass viele klassische mathematische Sätze ihren Ursprung in praktischen Problemen haben, die aus der Beobachtung der Natur oder dem Vermessen der Welt entstanden sind. Die Mathematik scheint also in der Natur zu stecken. Ist es dann aber nicht immer noch so, dass wir mathematische Zusammenhänge nur erfinden mit Hilfe unserer Sprache? Was ist mit mathematischen Sätzen, die Aussagen über Unendlichkeiten treffen? Und existieren auch die speziellen Eigenschaften von Geraden im fünfdimensionalen Raum?
Wie würdest du diese Fragen beantworten?
Marino Gambarara, Mathematiklehrer
WB_24_2025