Laut der Sotomo-Umfrage «Lesebarometer 2025 – So liest die Schweiz» entspannen sich 68 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer beim Lesen. Und auch bei langem Lesen bleibt die Wirkung positiv: 87 Prozent der Befragten berichten, dass sie sich danach gut fühlen.
Als Lesende:r öffnet man sich für die Wahrnehmung und das Denken anderer, lässt sich ein auf die Gedankenwelt des Autors oder der Autorin – Lesen ist ein individueller, aber kein einsamer Prozess. Dennoch möchten nicht alle Leser:innen beim Lesen eines Buches alleine sein. Seit einigen Jahren treffen sich in Zürich deshalb Menschen regelmässig, um gemeinsam zu lesen. Sie kommen im Abstand von einigen Wochen an unterschiedlichen Orten zusammen, z.B. in einer Bar, einer Buchhandlung oder auf einer Wiese in einem Park. Sie tun nichts anderes als lesen, und zwar alle in ihren eigenen Büchern. Dabei wird nicht gesprochen. Handys sind nicht verboten, aber kaum sichtbar. Das Ganze nennt sich Silent Reading Rave.
Warum suchen die Besucher einer solchen Veranstaltung zum individuellen Lesen Gesellschaft? Ein Grund ist wohl das Gefühl, im Alltag keine Zeit mehr zum Lesen zu haben. Der Rave ist Anlass dafür, sich Zeit zum Lesen zu nehmen. Auch der Gründer der Veranstaltungsreihe, Fabian Weingartner, suchte ursprünglich nach einem Projekt, das ihn selbst wieder mehr zum Lesen bringen sollte. Beim Silent Reading Rave liest man, weil man zwei Stunden lang genau dafür verabredet ist. «Entdecke die schönen Seiten wieder», heisst es auf der Homepage des Vereins.
Der zweite Grund ist die Konzentration auf das Lesen. 40 Prozent der jüngeren Befragten, nämlich der 18- bis 35-Jährigen, geben in der eingangs erwähnten Umfrage an, bei längeren Texten Probleme mit der Konzentration zu haben. In Gesellschaft von anderen Lesenden bleibt die Aufmerksamkeit für den Text über einen längeren Zeitraum erhalten. Dabei spielt zum einen das Gefühl des Gemeinsamen eine Rolle – man ist nicht mit dem Buch allein, sondern gemeinsam einsam. Zum anderen wirkt auch ein gewisser Gruppendruck, eine Kontrolle, die automatisch entsteht, wenn mehrere Menschen zusammen das Gleiche tun. Diese verhindert den Griff zum Handy.
Die Faktoren, die den Silent Reading Rave attraktiv machen, gelten auch für das Lernen in Bibliotheken. Der Ortswechsel in die Bibliothek markiert einen klaren Zeitabschnitt für das Lernen. Und: Man kann in der Bibliothek nichts anderes machen als zu lernen, nicht das Zimmer aufräumen und auch nicht «kurz» telefonieren. Die Gemeinschaft der Lernenden steigert die Motivation und mindert die Lust auf Ablenkung. Man ist nicht allein, sondern gemeinsam einsam – und in den Kaffeepausen ergeben sich lustige Gespräche oder man lernt vielleicht jemanden kennen… Diese mannigfaltigen Vorteile führen dazu, dass die Zürcher Bibliotheken während der Lernphasen überfüllt sind. Die Zentralbibliothek Zürich bietet rund 600 Arbeitsplätze, dennoch stehen die Studentinnen und Studenten frühmorgens Schlange, um einen Arbeitsplatz zu ergattern. Und seit einigen Jahren kommen die Gymnasiast:innen dazu, die es ebenfalls zunehmend schätzen, beim Lernen weniger abgelenkt zu sein.
Die Maturand:innen der KUE müssen in der Vorbereitungszeit für die Maturprüfungen nicht die Zürcher Bibliotheken stürmen. Denn seit gut einem Jahr besitzt die KUE den Ruhearbeitsraum, der genau die beschriebenen Vorteile bietet. Er hebt sich in Möblierung und Gestaltung von allen anderen Räumen der Schule ab, die verschiedenen Grüntöne, in denen die Wände des hellen Raumes gehalten sind, nehmen die Farben der Bäume und des Sees auf. Als ich an einem Freitagnachmittag dort an diesem Text arbeite, herrscht eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre, nur wenige Schüler:innen sitzen an den Tischen im linken Teil des Raumes. Sie arbeiten an ihrem Laptop oder lesen. Der Raum wird genutzt, Schlange stehen muss man jedoch nicht.
Im zukünftigen Schulhaus am See waren 80 solcher Arbeitsplätze vorgesehen, die sich in der Mediothek befinden sollten. Diese wird nach der gegenwärtigen Planung nun mit der Streichung der Aula nicht gebaut. Damit würde der KUE ein wichtiger Ort für eine besondere Form des individuellen, aber gemeinsamen Lernens fehlen.
Eugenie Bopp
WB 26_2025