«Ein sehr grosses Geheimnis»

Schwulenaktivist Ernst Ostertag, 94, war am Donnerstag an der KUE. Er erzählte aus seinem bewegten Leben und warum es sich lohnt, für seine Rechte einzustehen.

Ernst Ostertag und Quinn Rahmann.

Einmal verschlug es Ernst Ostertag die Sprache, die Tränen stiegen hoch, er, der sonst so witzig und munter erzählte, musste innehalten. Später sagte er verschmitzt, das sei halt das Alter, da tränten die Augen mehr. Man glaubte es ihm fast.

Denn in Ernst Ostertags Leben gab es viele emotionale Momente, wie er vor rund 80 Zuhörer*innen, einer bunten Mischung aus Schüler*innen und Lehrpersonen, in der Aula der KUE ausführte, moderiert von Quinn Rahmann. Quinn hatte Ostertag eingeladen, denn in ihrer Maturarbeit hat sie einen queeren Stadtrundgang geschaffen und war mit Ostertag in Kontakt getreten (www.zueribunt.ch).

Ostertag merkte im Jahre 1942, mit 12 Jahren, dass er «in die andere Richtung schaute», dass er schwul war. Und damit kam die Erkenntnis, dass er immer zu einer Minderheit gehören würde, dass er sich immer kontrollieren musste. Denn Homosexualität war damals ein Tabu, «darüber wurde nicht geredet, es war eine Schande.» Mit den Eltern habe er nie darüber reden können, auch wenn sie längst festgestellt hatten, dass da immer der gleiche Mann, Röbi Rapp, an seiner Seite war.

Ostertag wusste 1942, dass er ein grosses Geheimnis hütete, «ein sehr grosses Geheimnis».

Zufällig hörte er in den 1950er-Jahren, dass sich Homosexuelle beim Bürkliplatz in Zürich trafen. Er, unterdessen Heilpädagoge, ging aus Neugier hin, wollte wissen, wie man sich als Homosexueller zu verhalten habe, «wie das geht, im Verborgenen zu leben», «es gab ja keine Vorbilder». Er suchte keinen Sex, sondern ein Gespräch. So kam er schliesslich zur Schwulenzeitschrift «Der Kreis» und lernte andere Homosexuelle kennen.

Doch Ende 1950er-Jahre begann in Zürich eine Schwulenjagd der Polizei, es gab Razzien und das berüchtigte «Schwulenregister». «Eine schlimme Zeit», erinnert sich Ostertag, er sei von der Polizei geschlagen und erpresst worden. «Ich wusste: Das geht in einem Rechtsstaat nicht. Ich beschloss, mich zu wehren.»

Und das tat er. Die 68er-Jahre kamen, in den USA wehrten sich die Schwulen in New York, Stichwort «Stonewall», und neun Jahre später taten sie es auch in Zürich. Es gab Standaktionen, und ein halbes Jahr später verschwand das Schwulenregister.

Ab dann «begannen wir aufzudrehen», so Ostertag. Er und Röbi Rapp gingen an Podien, ins Fernsehen und wurden zum berühmtesten Schweizer Schwulenpaar. Zu Rapp, der 2018 starb, meinte Ostertag lakonisch: «Wir waren 62 Jahre zusammen und haben nie gestritten.» Im Jahr 2000 hatte Ostertag offiziell sein Coming-Out, «mit 70 Jahren.»

Das Publikum lauschte aufmerksam und ergriffen, Ostertag, immerhin im 95. Lebensjahr, erzählte konzis, unterhaltsam, mit Humor und sehr gutem Gedächtnis, aber ohne Verbitterung. Die Zeit verstrich rasch, man hätte ihm noch viel länger zuhören wollen.

Am Schluss hatte Ernst Ostertag, dieser kultivierte Kämpfer für die Rechte der Homosexuellen, noch ein gutes Wort für die KUE: «Das ist das erste Mal an einer Schule, dass so viele Leute gekommen sind.» Das Publikum dankte es ihm mit einem langen Applaus.